kleinen Deckelkorb hervor. »Nimm den in die Hand. Das sieht ehrbarer aus, meine Gute.«
»Gib ihr noch’n Schlüssel in die andre, Fagin«, warf Sikes ein, »dann wirkt’s noch orginialer.«
»Gute Idee, mein Bester«, sagte Fagin und hängte der jungen Dame einen großen Torschlüssel an den Zeigefinger der rechten Hand. »So, ausgezeichnet! Ganz ausgezeichnet sogar, mein Schatz«, meinte der alte Hehler händereibend.
»Oh, mein Bruder! Mein armer, kleiner, lieber, unschuldiger Bruder!«, rief Nancy, brach in Tränen aus und umklammerte im Schmerz der Verzweiflung das kleine Körbchen und den Schlüssel. »Was mag aus ihm geworden sein? Wohin mögen sie ihn gebracht haben? Oh, habt Erbarmen, ihr Herrn, und sagt mir, was mit ihm geschehen ist, ich bitt’ Euch, meine Herrn, seid so gütig!«
Nachdem sie diese Worte zum größten Entzücken ihres Publikums in höchst kläglichem und herzerweichendem Ton ausgesprochen hatte, hielt Miss Nancy inne, zwinkerte der Gesellschaft zu, nickte lächelnd in die Runde und verschwand.
»Ha, was für ein kluges Mädchen, meine Lieben«, sagte Fagin, wandte sich an seine jungen Freunde und schüttelte ernst den Kopf, als wolle er sie stumm ermahnen, dem leuchtenden Beispiel, das sie soeben zu sehen bekommen hatten, zu folgen.
»Sie ist eine Perle unter den Weibsbildern«, bemerkte Mr. Sikes, der sich ein Glas einschenkte und mit seiner riesigen Faust auf den Tisch schlug. »Auf ihr Wohl, wär’n sie doch alle wie Nancy!«
Während diese und viele andere Lobreden auf die vorzügliche Nancy gehalten wurden, hatte die junge Dame bereits den größten Teil ihres Weges zur Polizeiwache zurückgelegt, wo sie, ungeachtet eines verständlichen Anflugs von Ängstlichkeit, weil sie alleine und ohne Schutz durch die Straßen lief, kurz darauf völlig wohlbehalten eintraf.
Sie trat durch die Hintertür ein, klopfte mit dem Schlüssel sachte an eine Zellentür und horchte. Drinnen blieb es still, also hüstelte sie und horchte erneut. Noch immer keine Antwort, also fing sie zu sprechen an.
»Nolly, mein Liebster?«, wisperte Nancy mit leiser Stimme. »Nolly?«
Doch drinnen befand sich niemand außer einem elenden, barfüßigen Übeltäter, der eingelocht worden war, weil er Flöte gespielt hatte, und den, nachdem sein Verbrechen gegen die Gesellschaft eindeutig bewiesen worden war, Mr. Fang darum völlig zu Recht zu einem Monat Zuchthaus verurteilte, mit der ebenso passenden wie launigen Bemerkung, wenn er schon über so viel überschüssige Atemluft verfüge, sei es doch viel gesünder, sie in der Tretmühle als in ein Musikinstrument abzulassen. Der arme Kerl gab darauf keine Antwort, denn er war im Geiste ganz damit beschäftigt, den Verlust seiner Flöte zu beklagen, die zum Nutzen der Stadtverwaltung konfisziert worden war. Also ging Nancy zur nächsten Zelle und klopfte dort.
»Was is?«, ließ sich eine matte, schwache Stimme vernehmen.
»Ist dort drin ein kleiner Junge?«, erkundigte sich Nancy nach einem einleitenden Schluchzer.
»Nein«, erwiderte die Stimme, »Gott bewahre!«
Dies war ein Landstreicher von fünfundsechzig Jahren, der ins Gefängnis gewandert war, weil er nicht Flöte gespielt hatte, oder, mit anderen Worten, weil er auf der Straße gebettelt hatte, ohne für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. In der nächsten Zelle saß wiederum ein Mann, den man ins nämliche Gefängnis gesperrt hatte, weil er mit Kochtöpfen hausieren gegangen war, ohne eine behördliche Genehmigung dafür zu besitzen, also dem Gewerbeaufsichtsamt zum Trotz für seinen Lebensunterhalt arbeitete.
Aber da keiner dieser Verbrecher auf den Namen Oliver hörte oder etwas über ihn wusste, begab sich Nancy direkt zu dem gutmütigen Wachtmeister in der gestreiften Weste und fragte ihn unter mitleiderregendem Schluchzen und Klagen, das durch den gleichzeitigen Einsatz von Schlüssel und Körbchen in seiner Wirkung noch verstärkt wurde, nach ihrem geliebten Bruder.
»Hier ist er nicht, Teuerste«, sagte der alte Mann.
»Wo ist er dann?«, schrie Nancy verzweifelt.
»Na, dieser vornehme Herr hat ihn mitgenommen«, entgegnete der Wachtmeister.
»Welcher Herr? O mein Gott, welcher Herr?«, rief Nancy aus.
Als Antwort auf diese aufgeregten Fragen teilte der alte Mann der zutiefst beunruhigten Schwester mit, Oliver sei verletzt auf die Wache gebracht und entlassen worden, weil ein Zeuge ausgesagt habe, der Diebstahl sei von einem anderen, nicht in Haft befindlichen Jungen begangen worden, und der Kläger habe ihn in ohnmächtigem Zustand zu seinem eigenen Wohnsitz mitgenommen, von dem der Gewährsmann nur wusste, dass er sich irgendwo in Pentonville befand, jedenfalls meine er, das Wort gehört zu haben, als dem Kutscher das Fahrtziel genannt wurde.
In ihrem schrecklichen Zustand voller Bangen und Ungewissheit wankte die verzweifelte junge Frau zum Tor und kehrte dann, indem sie von ihrem strauchelnden Gang in einen sicheren, schnellen und steten Laufschritt wechselte, auf den gewundensten und verwirrendsten Wegen, die sie sich ausdenken konnte, zum Domizil des alten Hehlers zurück.
Kaum hatte Mr. Bill Sikes den Bericht über ihren Ausflug vernommen, als er auch schon seinen weißen Hund rief, sich den Hut aufsetzte und davoneilte, ohne irgendwelche Zeit mit der Förmlichkeit zu verschwenden, der Gesellschaft einen »Guten Morgen« zu wünschen.
»Wir müssen herausbekommen, wo er steckt, meine Lieben, wir müssen ihn finden«, rief Fagin in heller Aufregung. »Charley, du wirst dich so lange umhören, bis du mit Nachricht über ihn heimkommst! Nancy, Teuerste, ich muss ihn finden. Ich verlass mich voll und ganz auf dich, meine Liebe – auf dich und den Dodger! Wartet, wartet«, fuhr der alte Hehler fort und öffnete mit zittriger Hand eine Schublade. »Da habt ihr Geld, meine Freunde. Ich werde den Laden hier heute nacht dichtmachen. Ihr wisst, wo ich zu finden bin. Und nun bleibt keinen Augenblick länger, meine Lieben, fort mit euch!«
Mit diesen Worten schob er sie aus dem Zimmer, und nachdem er die Tür hinter ihnen doppelt verschlossen und verriegelt hatte, holte er aus dem Versteck das Kästchen hervor, welches Oliver aus Versehen zu Gesicht bekommen hatte. Dann verstaute er die Uhren und den Schmuck hastig in seinen Kleidern.
Ein Klopfen an der Tür schreckte ihn aus seiner Beschäftigung auf. »Wer ist da?«, rief er schrill.
»Ich bin’s!«, erwiderte die Stimme des Dodgers durchs Schlüsselloch.
»Was gibt’s?«, fragte Fagin unwirsch.
»Nancy will wissen, ob wir ihn in die andere Bude verschleppen soll’n«, sagte der Dodger.
»Ja«, erwiderte Fagin, »wann immer ihr ihn zu fassen kriegt. Findet ihn, schafft ihn herbei, das ist alles. Ich weiß schon, was dann zu tun ist, keine Angst.«
Der Junge murmelte, dass er verstanden habe, und eilte die Treppen hinab seinen Gefährten nach.
»Noch hat er nicht gesungen«, sagte Fagin und nahm seine vorherige Beschäftigung wieder auf. »Wenn er uns bei seinen neuen Freunden verpfeifen will, können wir ihm immer noch den Mund stopfen.«
Vierzehntes Kapitel
Enthält weitere Einzelheiten über Olivers Aufenthalt bei Mr. Brownlow sowie die bemerkenswerte Vorhersage, die ein Mr. Grimwig in Bezug auf Oliver trifft, als dieser zu einem Botengang aufbricht.
Oliver erholte sich bald von dem Ohnmachtsanfall, den er aufgrund von Mr. Brownlows plötzlichem Ausruf erlitten hatte, und im darauffolgenden Gespräch wurde der Gegenstand des Gemäldes sowohl vom alten Herrn als auch von Mrs. Bedwin sorgsam gemieden, es ging darin auch weder um Olivers Vergangenheit noch um seine Aussichten, sondern beschränkte sich auf solche Themen, die ihn aufzuheitern vermochten, ohne ihn dabei aufzuregen. Er war noch immer zu schwach, um zum Frühstück aufzustehen, doch als er am nächsten Tag in das Zimmer der Haushälterin herunterkam, warf er als erstes einen neugierigen Blick auf die Wand, in der Hoffnung, das Gesicht der schönen Dame wiederzusehen. Seine Erwartung wurde jedoch enttäuscht, denn das Gemälde war entfernt worden.
»Na«, sagte die Haushälterin, als sie Olivers Blick bemerkte, »siehst du, es