vorzutragen. Er berichtete, er sei in der Überraschung des Augenblicks dem Jungen nachgelaufen, weil er ihn habe davonrennen sehen, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, der Polizeirichter möge, falls er den Jungen nicht für den Dieb selbst, aber doch für einen Komplizen halte, mit ihm so gnädig verfahren, wie es das Gesetz zulasse.
»Er hat sich bereits eine Verletzung zugezogen«, sagte der alte Herr abschließend. »Und ich fürchte«, fügte er mit großem Nachdruck hinzu und schaute zu der Schranke, »ich fürchte wirklich, dass er ernsthaft krank ist.«
»Oh ja, das fürchte ich auch!«, rief Mr. Fang höhnisch. »Na komm schon, lass die Mätzchen, du kleiner Strolch, das zieht bei mir nicht. Wie heißt du?«
Oliver versuchte zu antworten, aber ihm versagte die Stimme. Er war leichenblass, und alles um ihn herum schien sich zu drehen.
»Dein Name, du verstockter Lausebengel!«, herrschte ihn Mr. Fang an. »Wachtmeister, sein Name?«
Das galt einem gutmütigen alten Burschen in gestreifter Weste, der an der Schranke stand. Er beugte sich zu Oliver hinab und wiederholte die Frage; da er jedoch feststellte, dass Oliver sie tatsächlich nicht verstand, und da er wusste, eine ausbleibende Antwort würde den Polizeirichter nur noch mehr erzürnen und das Urteil verschärfen, verlegte er sich beherzt aufs Raten.
»Er sagt, sein Name sei Tom White, Euer Ehren«, sprach dieser gütige Diebesfänger.
»Aha, er will wohl nicht laut reden, was?«, sagte Fang. »Also gut, wo wohnt er?«
»Wo er kann, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister, der abermals vorgab, von Oliver Antwort zu erhalten.
»Hat er Eltern?«, begehrte Mr. Fang zu wissen.
»Er sagt, sie seien gestorben, als er noch ganz klein war, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister, die Antwort wieder auf gut Glück erfindend.
An diesem Punkt des Verhörs hob Oliver den Kopf, schaute sich flehenden Blickes um und murmelte kaum vernehmlich die Bitte um einen Schluck Wasser.
»Dummes Zeug!«, rief Mr. Fang. »Versuch nicht, mich zum Narren zu halten.«
»Ich glaube, er ist tatsächlich krank, Euer Ehren«, wandte der Wachtmeister ein.
»Das weiß ich besser«, sagte Mr. Fang.
»Passt auf, Herr Wachtmeister«, rief der alte Herr und hob unwillkürlich die Hände, »er fällt um!«
»Weg da, Wachtmeister«, schrie Fang, »lasst ihn fallen, wenn er will.«
Oliver machte von dieser freundlichen Erlaubnis Gebrauch und sackte ohnmächtig zu Boden. Die Männer in der Amtsstube sahen einander an, aber keiner wagte, sich zu rühren.
»Ich wusste, dass er sich bloß verstellt«, meinte Fang, als hätte Oliver den unstrittigen Beweis dieser Tatsache geliefert. »Lasst ihn dort liegen, er wird es bald satt haben.«
»Wie gedenkt Ihr mit dem Fall zu verfahren, Sir?«, erkundigte sich der Schreiber mit leiser Stimme.
»Das Urteil ergeht sofort«, erwiderte Mr. Fang. »Drei Monate Haft … bei schwerster Arbeit, natürlich. Und jetzt räumt den Saal.«
Zu diesem Zwecke wurde die Tür geöffnet, und zwei Wärter machten sich gerade daran, den bewusstlosen Jungen in die Zelle zu tragen, als ein älterer Mann von gepflegter, aber ärmlicher Erscheinung, der mit einem alten schwarzen Anzug bekleidet war, hastig in die Amtsstube stürzte und ans Pult des Richters trat.
»Halt! Halt! Schafft ihn nicht fort! Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!«, rief der Neuankömmling atemlos vor Eile.
Obwohl der befehlshabende Genius einer Amtsstube wie dieser eine unmittelbare und willkürliche Herrschaft über die Freiheiten, den guten Namen, die Stellung, ja beinahe das Leben der Untertanen Ihrer Majestät, insbesondere der ärmeren Schichten, ausübt, und obwohl in diesen Mauern Tag für Tag absonderliche Winkelzüge vollführt werden, die Engel vor Tränen erblinden lassen, dringt davon nichts an die Öffentlichkeit, außer durch die Berichte der Tagespresse. Mr. Fang war folglich nicht wenig entrüstet, einen ungebetenen Gast unter solch ungebührlicher Ruhestörung eintreten zu sehen.
»Was soll das? Wer ist das? Werft diesen Mann hinaus. Räumt die Amtsstube!«, schrie Mr. Fang.
»Ich werde reden!«, rief der Mann. »Ich lasse mich nicht rauswerfen. Ich habe alles gesehen. Mir gehört die Bücherbude. Ich verlange, vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abwimmeln. Mr. Fang, Ihr müsst mich anhören. Ihr dürft mich nicht abweisen, Sir!«
Der Mann hatte recht. Sein Auftreten war kühn und entschlossen, und die Sache wurde nun zu ernst, um sie noch vertuschen zu können.
»Vereidigt diesen Burschen«, knurrte Fang widerwillig. »Nun, was habt Ihr vorzubringen, Mann?«
»Folgendes«, sagte der Buchhändler, »ich habe drei Jungen gesehen, zwei andere und den Angeklagten hier, die auf der anderen Straßenseite herumlungerten, als dieser Herr am Lesen war. Der Diebstahl wurde von einem der anderen Jungen begangen. Ich habe es beobachtet und gesehen, wie dieser Junge hier völlig überrascht und bestürzt darüber war.«
Inzwischen wieder ein wenig zu Atem gekommen, fuhr der wackere Buchhändler damit fort, die genauen Umstände der Straftat etwas zusammenhängender zu schildern.
»Warum seid Ihr nicht gleich hergekommen?«, fragte Fang nach einer Pause.
»Ich konnte niemanden finden, der auf meine Bude aufpasst«, antwortete der Mann, »denn alle, die hätten helfen können, waren an der Verfolgungsjagd beteiligt. Erst vor fünf Minuten habe ich jemanden gefunden und bin sofort den ganzen Weg hierher gerannt.«
»Der Kläger hat also gelesen?«, wollte Fang nach einer weiteren Pause wissen.
»Ja«, erwiderte der Mann. »Er hat das Buch noch in der Hand.«
»Aha, dieses Buch also?«, fragte Fang. »Ist es bezahlt?«
»Nein, ist es nicht«, entgegnete der Mann lächelnd.
»Ach du meine Güte, das habe ich ganz vergessen!«, rief der zerstreute alte Herr gänzlich unbefangen.
»Ein feiner Herr, der hier einen armen Jungen beschuldigt!«, sagte Fang in dem komischen Bemühen, menschlich zu wirken. »Ich stelle fest, Sir, dass Ihr unter höchst verdächtigen und ehrenrührigen Umständen in den Besitz des Buches gekommen seid, und Ihr könnt Euch sehr glücklich schätzen, dass der Eigentümer dieses Gegenstands von einer Anklage absieht. Lasst Euch das eine Lehre sein, mein Herr, sonst wird Euch das Gesetz bald doch noch ereilen. Der Junge kommt auf freien Fuß. Und jetzt alle raus hier.«
»Gott verd…!«, platzte der alte Herr mit all dem Zorn heraus, den er so lange unterdrückt hatte. »Gott verd…! Ich werde …«
»Räumt den Saal!«, ordnete der Polizeirichter an. »Wachtmeister, hört Ihr schlecht? Räumt den Saal!«
Dem Befehl wurde Folge geleistet, und der aufgebrachte Mr. Brownlow, der vor Zorn und Empörung geradezu raste, wurde, das Buch in der einen und den Bambusstock in der anderen Hand, umgehend hinausbefördert. Als er den Hof betrat, löste sich seine ganze Erregung augenblicklich in Luft auf. Der kleine Oliver Twist lag mit dem Rücken auf dem Pflaster, das Hemd aufgeknöpft und die Schläfen mit Wasser besprenkelt. Sein Gesicht war leichenblass, und ein Schüttelfrost ließ ihn am ganzen Leib erzittern.
»Armer Junge, armer Junge!«, rief Mr. Brownlow und beugte sich über ihn. »Kann bitte jemand eine Kutsche rufen? Schnell!«
Die Kutsche wurde besorgt, und nachdem sie Oliver vorsichtig auf einen Sitz gelegt hatten, stieg der alte Herr ein und setzte sich daneben.
»Darf ich Euch begleiten?«, fragte der Buchhändler und schaute hinein.
»Du meine Güte, natürlich, mein lieber Freund«, sagte Mr. Brownlow rasch. »Euch habe ich ganz vergessen. Lieber Himmel! Und noch immer habe ich dieses unglückselige Buch! Steigt ein. Armer Kerl! Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Der