Charles Dickens

Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus


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der zwei Jungen ließen erkennen, dass beide vor Ort gewesen waren, und Oliver wunderte sich natürlich, wie sie da noch Zeit finden konnten, so fleißig zu arbeiten.

      Als das Frühstück abgeräumt war, spielten der fröhliche alte Herr und die beiden Jungen ein höchst seltsames und ungewöhnliches Spiel, das so vor sich ging: Der fröhliche alte Herr steckte eine Schnupftabakdose in die eine Hosentasche und eine Brieftasche in die andere, eine Uhr, die ihm an einer Kette um den Hals hing, in die Westentasche und eine unechte Diamantennadel ans Hemd, dann knöpfte er seinen Rock fest zu, füllte dessen Taschen mit Brillenetui und Schnupftuch und spazierte daraufhin mit einem Stock im Zimmer auf und ab, ganz so, wie die alten Gentlemen, die man zu jeder Tageszeit durch die Straßen gehen sieht. Mal blieb er am Kamin stehen, mal an der Tür, und tat so, als würde er aufmerksam Schaufenster betrachten. Bei solchen Gelegenheiten schaute er sich aus Furcht vor Dieben ständig nach allen Seiten um und klopfte reihum alle Taschen ab, um zu prüfen, ob auch nichts verlorengegangen sei, und alles wirkte so natürlich und komisch, dass Oliver lachte, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Die ganze Zeit folgten die beiden Jungen dem alten Herrn auf Schritt und Tritt und wichen jedesmal, wenn er sich umwandte, seinem Blick so geschwind aus, dass man ihren Bewegungen nicht zu folgen vermochte. Schließlich trat ihm dann der Dodger auf die Zehen oder stieß ihm wie zufällig gegen die Stiefel, während Charley Bates ihn von hinten anrempelte, und in diesem Augenblick entwendeten sie ihm mit bemerkenswerter Flinkheit Schnupftabakdose, Brieftasche, Uhr samt Kette, Anstecknadel, Schnupftuch und sogar das Brillenetui. Spürte der alte Herr in irgendeiner Tasche eine Hand, rief er, in welcher sie sich befand, und dann begann das Spiel von neuem.

      Als dieses Spiel viele Male wiederholt worden war, kamen zwei junge Damen, um die jungen Herren zu besuchen, die eine hieß Bet, die andere Nancy. Sie trugen ihr Haar, das nicht allzu ordentlich hinten hochgesteckt war, ziemlich lang, und ihre Schuhe und Strümpfe wirkten ein wenig ungepflegt. Sie waren vielleicht nicht eigentlich hübsch, hatten jedoch viel Farbe im Gesicht und sahen drall und munter aus. Da sie von ungezwungenem und liebenswürdigem Benehmen waren, hielt Oliver sie für ausgesprochen nette Mädchen. Und das waren sie zweifellos auch.

      Der Besuch blieb eine ganze Weile. Infolge der Klage einer der jungen Damen, ihr würde innerlich frösteln, kamen Spirituosen auf den Tisch, worauf die Unterhaltung eine lebhafte und fröhliche Wendung nahm. Schließlich gab Charley Bates seiner Meinung Ausdruck, es sei Zeit, in die Hufe zu kommen. Das, so vermutete Oliver, müsse wohl Französisch für »ausgehen« sein, denn gleich darauf brachen der Dodger und Charley mit den beiden jungen Damen auf, wobei sie vom liebenswerten alten Herrn noch mit einem Taschengeld versehen wurden.

      »Na, mein Lieber«, sagte Fagin, »das ist ein herrliches Leben, was? Den Rest des Tages haben sie frei.«

      »Ist ihre Arbeit denn schon getan, Sir?«, erkundigte sich Oliver.

      »Ja«, erwiderte der Alte, »es sei denn, ihnen läuft draußen zufällig welche über den Weg, dann werden sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mein Bester, darauf kannst du dich verlassen. Nimm sie dir zum Vorbild, mein Junge, nimm sie dir zum Vorbild«, sagte Fagin und klopfte mit dem Schürhaken auf den Herd, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Tu alles, was sie dir auftragen, und befolge in allen Dingen ihren Rat, besonders den des Dodgers, mein Liebling. Er wird es einmal zu etwas bringen und auch dir dazu verhelfen, wenn du seinem Beispiel folgst. Hängt mir da etwa mein Schnupftuch aus der Tasche, mein Junge?«, fragte Fagin, plötzlich innehaltend.

      »Ja, Sir«, antwortete Oliver.

      »Versuche, es herauszuziehen, ohne dass ich es merke. So wie du es heute morgen bei unserem Spiel gesehen hast.«

      Oliver hielt mit einer Hand die Tasche unten fest, so wie er es beim Dodger beobachtet hatte, und zog mit der anderen sachte das Schnupftuch heraus.

      »Hast du’s?«, fragte Fagin.

      »Hier ist es, Sir«, sagte Oliver und hielt es ihm hin.

      »Du bist ein cleveres Kerlchen«, sagte der alte Herr launig und tätschelte Oliver lobend den Kopf. »Noch nie habe ich einen geschickteren Burschen gesehen. Hier hast du einen Shilling. Wenn du so weitermachst, wirst du es von allen am weitesten bringen. Und jetzt komm, ich werde dir zeigen, wie man die Monogramme aus den Schnupftüchern entfernt.«

      Oliver fragte sich verwundert, was seine Aussicht, es weit zu bringen, damit zu tun hatte, einem alten Herrn im Spiel die Taschen zu leeren. Aber mit dem Gedanken, Fagin, der ja so viel älter war als er, müsse es wohl am besten wissen, folgte er ihm wortlos zum Tisch und war schon bald emsig mit seiner neuen Arbeit beschäftigt.

      Zehntes Kapitel

      Oliver macht nähere Bekanntschaft mit dem Charakter seiner neuen Gefährten und sammelt zu hohem Preis neue Erfahrungen. Ein kurzes, aber äußerst wichtiges Kapitel dieser Geschichte.

      Viele Tage lang blieb Oliver im Zimmer des fröhlichen alten Herrn, entfernte die Monogramme aus den Schnupftüchern (die in großer Zahl ins Haus gebracht wurden) und nahm manchmal am schon beschriebenen Spiel teil, das die beiden Jungen und Fagin jeden Morgen regelmäßig aufführten. Schließlich begann er sich nach frischer Luft zu sehnen und nutzte viele Gelegenheiten, um Fagin eindringlich um Erlaubnis zu ersuchen, ihn mit seinen beiden Gefährten zur Arbeit hinausgehen zu lassen.

      Oliver war umso erpichter darauf, sich betätigen zu dürfen, weil er gesehen hatte, von welch unbeugsamer Moral der Charakter des alten Herrn war. Wann immer der Dodger oder Charley Bates abends mit leeren Händen nach Hause kamen, verbreitete er sich ausgiebig und leidenschaftlich über die Schande von Faulheit und Müßiggang und bleute ihnen die Notwendigkeit eines tätigen Lebens ein, indem er sie ohne Abendbrot zu Bett schickte. Einmal ging er sogar so weit, beide die Treppe hinabzuprügeln, aber für gewöhnlich nahmen seine Lektionen in Tugend keine derartigen Ausmaße an.

      Eines Morgens erhielt Oliver dann endlich die Erlaubnis, die er so herbeigesehnt hatte. Schon seit zwei oder drei Tagen gab es keine Schnupftücher mehr, die zu bearbeiten waren, und die Mahlzeiten fielen recht kärglich aus. Vielleicht waren das die Beweggründe des alten Herrn, seine Einwilligung zu geben, doch wie dem auch sei, er sagte Oliver, er dürfe ausgehen, und stellte ihn unter die gemeinsame Aufsicht des Dodgers und seines Freundes Charley Bates.

      So zogen die drei Jungen los. Der Dodger hatte wie immer die Ärmel seines Gehrocks aufgekrempelt und den Hut schief auf dem Kopf sitzen, Meister Bates schlenderte mit den Händen in den Taschen dahin, und zwischen ihnen Oliver, der sich fragte, wohin sie wohl gingen und in welcher Art von Handwerk man ihn als erstes unterweisen werde.

      Sie trotteten so gemächlichen und saumseligen Schrittes daher, dass Oliver schon bald vermutete, seine Gefährten wollten den alten Herrn betrügen und sich überhaupt nicht zur Arbeit begeben. Zudem besaß der Dodger die boshafte Neigung, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen und in Kellerschächte zu werfen, während Charley Bates einen sehr weit gefassten Begriff von Eigentum an den Tag legte, indem er mehrere Äpfel und Zwiebeln von den Ständen am Bordstein stibitzte und sich in die Taschen stopfte, die so erstaunlich geräumig waren, dass sie seine ganze Kleidung in sämtlichen Richtungen zu durchziehen schienen. All diese Dinge wirkten so verderbt, dass Oliver gerade seine Absicht, sich auf eigene Faust auf den Rückweg zu begeben, kundtun wollte, als seine Gedanken plötzlich durch eine rätselhafte Änderung im Verhalten des Dodgers in eine andere Richtung gelenkt wurden.

      Sie traten gerade aus einem engen Gässchen unweit des offenen Platzes in Clerkenwell, der in seltsamer Verkehrung der Tatsachen The Green genannt wird, als der Dodger abrupt stehenblieb, den Finger an die Lippen legte und seine Kumpane ganz vorsichtig und behutsam wieder zurückzog.

      »Was ist los?«, erkundigte sich Oliver.

      »Pssst!«, machte der Dodger. »Siehst du diesen alten Knilch an der Bücherbude?«

      »Den alten Herrn dort drüben?«, fragte Oliver. »Ja, den sehe ich.«

      »Den werd’n wir rupfen«, sagte der Dodger.

      »Wie’n Federvieh«, bemerkte Meister Charley Bates.

      Oliver blickte bass erstaunt von einem zum anderen, erhielt