Oliver folgte ihnen ein paar Schritte und blieb dann, unschlüssig, ob er nähertreten oder sich zurückziehen sollte, in stummer Verwunderung stehen.
Der alte Herr war von sehr achtbarer Erscheinung, mit gepudertem Haar und goldener Brille. Er war in einen dunkelgrünen Gehrock mit schwarzem Samtkragen gekleidet, trug weiße Hosen und unter dem Arm ein elegantes Bambusstöckchen. Er hatte ein Buch von der Auslage genommen und stand nun so eifrig lesend da, als säße er in seinem Arbeitszimmer im Lehnstuhl. Sehr gut möglich, dass er sich tatsächlich dort wähnte, denn seine Versunkenheit verriet deutlich, dass er weder Bücherbude noch Straße, noch die Jungen sah, kurz gesagt, nichts außer dem Buch, welches er in einem Zuge durchlas. Sobald er das Ende einer Seite erreichte, blätterte er um und fuhr auf der nächsten Seite mit der obersten Zeile fort, und so las er aufmerksam und begierig immer weiter.
Welch Schrecken und Entsetzen überkamen Oliver, der ein paar Schritte entfernt stand, die Augen sperrangelweit aufgerissen, als er sah, wie die Hand des Dodgers in die Tasche des alten Herrn schlüpfte und ein Schnupftuch daraus hervorzog! Als er sah, wie der Dodger selbiges an Charley Bates weiterreichte, und als er schließlich sah, wie beide in vollem Lauf um die Ecke wegliefen!
Mit einem Schlag offenbarte sich dem Jungen das ganze Geheimnis um Schnupftücher, Uhren, Juwelen und den alten Fagin. Einen Moment lang stand er da, während ihm vor Grausen das Blut wie Feuer durch seine Adern pulsierte, so dass er zu brennen meinte, dann nahm er verwirrt und erschrocken die Beine in die Hand, und ohne zu wissen, was er tat, rannte er davon, so schnell ihn seine Füße trugen.
All das geschah innerhalb weniger Augenblicke. Genau in dem Moment, als Oliver zu laufen begann, griff sich der alte Herr mit der Hand an die Tasche, vermisste das Schnupftuch und drehte sich rasch um. Als er den Jungen so geschwind davonstürmen sah, hielt er ihn natürlich für den Langfinger und setzte ihm mit dem Buch in der Hand nach, wobei er aus vollem Halse »Haltet den Dieb!« rief.
Aber der alte Herr war nicht der einzige, der Zeter und Mordio schrie. Der Dodger und Meister Bates waren, da sie kein öffentliches Aufsehen erregen wollten, nicht durch die belebten Straßen geflohen, sondern hatten sich bloß um die Ecke in den erstbesten Torweg gedrückt. Sobald sie den Ruf vernahmen und Oliver wegrennen sahen, errieten sie genau, wie die Dinge standen, kamen unverzüglich hervor und schlossen sich wie ehrbare Bürger der Verfolgung an, wobei auch sie »Haltet den Dieb!« schrien.
Obwohl von lebensklugen Menschen erzogen, fehlte Oliver die theoretische Kenntnis des schönen Grundsatzes, dass Selbsterhaltung oberstes Gebot der Natur ist. Ansonsten wäre er vielleicht auf die Lage vorbereitet gewesen. Gänzlich unvorbereitet erschreckte sie ihn umso mehr, weshalb er wie der Wind davonlief, den alten Herrn und die beiden Jungen schreiend und brüllend auf seinen Fersen.
»Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Diese Worte bergen Zauberkraft: Der Kaufmann lässt die Ladentheke in Stich, der Fuhrmann den Karren, der Schlachter das Messer, der Bäcker den Korb, der Milchmann die Kannen, der Laufbursche das Päckchen, der Schuljunge die Murmeln, der Pflasterer die Spitzhacke und das Kind seinen Federballschläger. Da stürmen sie hin, Hals über Kopf, holterdiepolter, hopplahopp, rasend, schreiend und brüllend, biegen um die Ecke, stoßen Spaziergänger um, scheuchen Hunde auf und verschrecken das Federvieh, Straßen, Plätze und Höfe hallen wider von ihrem Ruf.
»Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Der Ruf wird von hundert Stimmen aufgenommen, und an jeder Ecke schwillt die Menge an. So fliegen sie dahin, spritzen durch den Matsch, trampeln übers Pflaster, Fenster schwingen auf, Leute stürzen heraus, weiter tobt der Mob, reißt mitten in der Vorstellung das gesamte Publikum eines Straßentheaters mit, das sich der hetzenden Meute anschließt, das Gebrüll verstärkt und dem Ruf neue Kraft verleiht: »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!«
»Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Tief in des Menschen Brust wurzelt die Leidenschaft, irgendetwas zu jagen. Ein elendes, atemloses Kind, vor Erschöpfung keuchend, Entsetzen im Blick, Todesangst in den Augen, dicke Schweißtropfen rinnen über sein Gesicht, jeder Nerv gespannt, um den Verfolgern zu entkommen, und wie sie ihm im Nacken sitzen und jeden Augenblick näher kommen, bejubeln sie seine schwindenden Kräfte mit noch lauteren Rufen, sie schreien und johlen vor Freude. »Haltet den Dieb!« Ja, haltet ihn um Gottes willen, und sei es allein aus Barmherzigkeit!
Endlich zum Halten gebracht. Ein geschickter Hieb. Er liegt auf dem Pflaster, und die Menge drängt sich um ihn, jeder Neuankömmling schubst und stößt die anderen, um einen Blick erhaschen zu können. »Tretet beiseite!« – »Lasst ihm etwas Luft!« – »Ach was, das hat er nicht verdient.« – »Wo ist der Herr?« – »Da kommt er die Straße herab!« – »Macht Platz für den Herrn!« – »Ist das der Junge, Sir?« – »Ja.«
Oliver lag mit Schmutz und Staub bedeckt und aus dem Mund blutend da und blickte wirr auf all die Gesichter um ihn herum, als der alte Herr von den eifrigsten Verfolgern beflissen in den Kreis gezogen und geschoben wurde.
»Ja«, sagte der Herr, »ich fürchte, er ist es.«
»Er fürchtet!«, raunte die Menge. »Der is vielleicht gut.«
»Armer Kerl!«, rief der Herr. »Er hat sich verletzt.«
»Das war ich, Sir«, meldete sich ein grobschlächtiger Kerl und trat vor. »Hab mir an seinem Maul ganz schön die Knöchel ramponiert. Ich hab ihn aufgehalten, Sir.«
Der Bursche tippte sich mit einem Grinsen an den Hut, als erwarte er etwas für seine Mühen, doch der alte Herr, der ihn mit einem Ausdruck des Missfallens beäugte, schaute unbehaglich in die Runde, als gedächte er, selber davonzulaufen. Sehr wahrscheinlich hätte er es auch versucht und damit eine weitere Jagd ausgelöst, wäre in diesem Augenblick nicht ein Polizist (der bei solchen Gelegenheiten für gewöhnlich als letzter eintrifft) aufgetaucht, der sich den Weg durch die Menge bahnte und Oliver am Kragen packte.
»Los, aufstehen«, herrschte ihn der Mann an.
»Ich war’s nicht, Sir! Ehrlich nicht, es waren zwei andere Jungen«, sagte Oliver, der flehentlich mit den Händen rang und sich umschaute. »Sie müssen hier irgendwo sein.«
»Nein, sind sie nicht«, erwiderte der Polizist. Er meinte es zwar ironisch, dennoch entsprach es der Wahrheit, denn der Dodger und Charley Bates hatten sich durchs nächste Gässchen, das sich anbot, verdrückt. »Los, steh auf!«
»Tut ihm nicht weh«, bat der alte Herr voller Mitleid.
»Oh nein, ich werd ihm schon nicht weh tun«, antwortete der Polizist und riss Oliver wie zum Beweis die Jacke halb vom Leib. »Los, stell dich bloß nicht so an, ich kenn dich doch. Willst du wohl aufstehen, du kleiner Satansbraten?«
Oliver, der sich kaum auf den Beinen halten konnte, unternahm einen Versuch, sich zu erheben und wurde sofort am Kragen schnellen Schrittes durch die Straßen geschleift. Der Herr begleitete ihn an der Seite des Polizisten, und so viele von der Menge, wie zu dieser Heldentat fähig waren, trabten ein Stückchen vorneweg und schauten sich immer wieder nach Oliver um. Die Straßenjungen stießen ein Triumphgeheul aus, und so zogen sie dahin.
Elftes Kapitel
Handelt von dem Polizeirichter Mr. Fang und gibt eine kleine Kostprobe davon, wie er Gerechtigkeit walten lässt.
Die Straftat war in dem Bezirk, ja sogar in unmittelbarer Nachbarschaft einer äußerst berüchtigten Wache der städtischen Polizei verübt worden. Die Menge musste sich damit begnügen, Oliver bloß durch zwei oder drei Straßen und über einen Platz namens Mutton Hill begleiten zu können, als er auch schon unter einem niedrigen Torbogen und durch ein schmutziges Gässchen hindurch zum Hintereingang dieser Armenapotheke der Schnelljustiz geführt wurde. Sie betraten einen kleinen gepflasterten Hof, wo sie auf einen stämmigen Mann trafen, der im Gesicht einen dicken Schnurrbart und in der Hand ein dickes Schlüsselbund trug.
»Worum geht’s?«, fragte der Mann gleichgültig.
»Ein kleiner Langfinger«, antwortete der Mann, der Oliver am Schlafittchen hatte.
»Seid Ihr der Bestohlene, Sir?«, erkundigte sich der Mann mit den Schlüsseln.
»Ja,