leer.
»Und jetzt zum geschäftlichen Teil«, fuhr der Büttel fort und holte ein ledernes Notizbuch hervor. »Der Knabe, der per Nottaufe den Namen Oliver Twist erhalten hat, wird heute neun Jahre alt.«
»Gott segne ihn!«, rief Mrs. Mann und rieb sich mit dem Schürzenzipfel das linke Auge rot.
»Und trotz einer Belohnung von zehn Pfund, die später auf zwanzig Pfund heraufgesetzt wurde, trotz der größten, ja, ich möchte sagen übermenschlichen Anstrengungen, die der Gemeinderat unternommen hat«, verkündete Bumble, »ist es uns weder gelungen, herauszufinden, wer sein Vater ist, noch wo seine Mutter herkam, wie sie hieß oder welchen Standes sie war.«
Mrs. Mann hob erstaunt ihre Hände, stutzte kurz und fragte nach: »Wie kommt es dann, dass er überhaupt einen Namen hat?«
Der Büttel warf sich voller Stolz in die Brust und erwiderte: »Den habe ich ihm gegeben.«
»Ihr, Mr. Bumble!«
»Ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsere Findelkinder in alphabetischer Reihenfolge. Der letzte war ein S – den habe ich Swubble genannt. Dieser war ein T – ihn habe ich Twist genannt. Der nächste wird ein Unwin sein, und der danach ein Vilkins. Ich habe schon bis zum Ende des Alphabets Namen parat, und wenn wir bei Z angelangt sind, geht’s wieder von vorn los.«
»Na so was, Ihr seid ja gar ein Dichter, Sir!«, rief Mrs. Mann.
»Na ja«, meinte der Büttel, der das Kompliment mit offensichtlicher Genugtuung zur Kenntnis nahm, »kann schon sein, dass ich einer bin, Mrs. Mann.« Er trank sein Glas leer und fuhr fort: »Oliver ist jetzt zu alt, um weiter hierzubleiben, der Vorstand hat entschieden, ihn wieder ins Armenhaus zu holen. Ich bin höchstpersönlich gekommen, um ihn mitzunehmen, also lasst mich ihn gleich sehen.«
»Ich werde ihn sofort herbeischaffen«, entgegnete Mrs. Mann und verließ zu diesem Zwecke das Zimmer. Oliver, dem man inzwischen so viel von der Dreckkruste, die ihm Gesicht und Hände überzog, entfernt hatte, wie man mit einmaligem Waschen abzuschrubben vermochte, wurde von seiner wohlwollenden Beschützerin hereingeführt.
»Mach einen Diener vor dem Herrn, Oliver«, sagte Mrs. Mann.
Oliver machte einen Diener, der gleichermaßen dem Büttel auf dem Stuhl wie dem Dreispitz auf dem Tisch galt.
»Willst du mit mir kommen, Oliver?«, fragte Mr. Bumble in hoheitsvollem Ton.
Oliver wollte gerade sagen, dass er nur zu gerne bereit sei, wegzugehen, mit wem auch immer, als er aufschaute und sein Blick auf Mrs. Mann fiel, die hinter den Stuhl des Büttels getreten war und ihm mit wütender Miene mit der Faust drohte. Er verstand den Wink sofort, denn diese Faust hatte zu oft Spuren auf seinem Leib hinterlassen, um nicht auch welche in seinem Gedächtnis hinterlassen zu haben.
»Wird sie mitkommen?«, erkundigte sich der arme Oliver.
»Nein, das geht nicht«, antwortete Mr. Bumble. »Aber sie wird dich hin und wieder besuchen.«
Das war dem Knaben kein sonderlicher Trost. Trotz seines jungen Alters war er verständig genug, großes Bedauern zu heucheln, fortgehen zu müssen. Es fiel dem Jungen nicht schwer, die Tränen fließen zu lassen. Hunger und jüngst erlittene Misshandlungen sind ausgesprochen hilfreich, wenn man weinen will, und so kamen Oliver von ganz allein die Tränen. Mrs. Mann umarmte ihn tausendmal und gab ihm, was Oliver weitaus mehr zu schätzen wusste, ein Stück Brot mit Butter, damit er nicht gar so hungrig aussähe, wenn er ins Armenhaus kam. Mit der Scheibe Brot in der Hand und der kleinen Armenhäuslermütze aus grobem Tuch auf dem Kopf wurde Oliver von Mr. Bumble fortgeführt, aus seinem erbärmlichen Zuhause, wo weder ein liebes Wort noch ein freundlicher Blick die Düsternis seiner frühen Kindheit erhellt hatten. Und doch überkam ihn, als die Tür des Heimes hinter ihm ins Schloss fiel, der Schmerz kindlicher Verzweiflung. So armselig seine kleinen Gefährten, die er zurückließ, in ihrem Elend auch sein mochten, so waren sie doch die einzigen Freunde, die er je gekannt hatte, und zum ersten Mal machte sich im Herzen des Kindes das Gefühl breit, ganz allein in der großen weiten Welt zu sein.
Mr. Bumble holte mit weiten Schritten aus, der kleine Oliver trabte, sich am goldbetressten Ärmel des Büttels festklammernd, neben ihm her und erkundigte sich alle Viertelmeile, ob sie schon »bald dort« seien. Auf diese Fragen gab Mr. Bumble nur kurz und barsch Antwort, denn die vorübergehende Milde, die der Gin in mancher Brust weckt, hatte sich inzwischen verflüchtigt, und er war wieder ganz Büttel.
Oliver befand sich noch keine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Armenhauses und hatte kaum eine zweite Scheibe Brot vertilgt, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau übergeben hatte, zurückkehrte und ihm mitteilte, dass gerade eine abendliche Sitzung stattfinde und der Vorstand bestimmt habe, er solle unverzüglich vor selbigem erscheinen.
Da er keine rechte Vorstellung davon besaß, was eine Vorstandssitzung wohl sein könne, war Oliver über diese Nachricht nicht wenig erstaunt und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er fand auch keine Gelegenheit, darüber nachzusinnen, denn Mr. Bumble versetzte ihm mit seinem Stock einen Schlag auf den Schädel, um ihn aufzuwecken, einen weiteren in den Rücken, um ihn anzutreiben, und befahl ihm, mitzukommen. Der Büttel führte ihn in ein großes, weiß getünchtes Zimmer, in dem acht oder zehn wohlbeleibte Herrn an einem Tisch saßen. Am Kopfende des Tisches thronte in einem Lehnstuhl, noch größer als die anderen, ein besonders feister Herr mit einem kugelrunden, roten Gesicht.
»Verbeuge dich vor dem Hohen Hause«, sagte Bumble. Oliver wischte ein oder zwei Tränen fort, die ihm in die Augen getreten waren, und da er kein hohes Haus sah, sondern bloß einen großen Tisch, verbeugte er sich auf gut Glück vor diesem.
»Wie heißt du, Junge?«, fragte der Herr in dem Lehnstuhl.
Oliver war vom Anblick so vieler Herren eingeschüchtert, weshalb er zu zittern begann, und der Büttel stieß ihm erneut in den Rücken, weshalb er zu weinen anfing. Wegen beidem konnte er nur sehr leise und stockend antworten, woraufhin ein Herr in weißer Weste ihn einen Dummkopf nannte. Das war natürlich bestens geeignet, Oliver Mut zu machen und ihm seine Befangenheit zu nehmen.
»Junge«, sagte der Herr auf dem großen Stuhl, »hör mir zu. Du weißt, dass du eine Waise bist, nehme ich an?«
»Was ist das, Sir?«, fragte der arme Oliver.
»Der Junge ist wirklich ein Dummkopf … ich hab’s doch gleich gewusst«, bemerkte der Herr in der weißen Weste.
»Ruhe!«, rief der Herr, der zuerst gesprochen hatte. »Du weißt, dass du weder Vater noch Mutter hast und von der Gemeinde großgezogen wurdest, nicht wahr?«
»Ja, Sir«, erwiderte Oliver und weinte bitterlich.
»Warum weinst du?«, erkundigte sich der Herr in der weißen Weste. Und es war ja auch wirklich merkwürdig. Was sollte der Junge für einen Grund haben, zu weinen?
»Ich hoffe, du sprichst jeden Abend dein Gebet«, warf ein anderer Herr mit schroffer Stimme ein, »und bittest für die Menschen, die dir zu essen geben und für dich sorgen … wie ein guter Christ.«
»Jawohl, Sir«, stammelte der Junge. Der Herr mit der schroffen Stimme hatte, ohne es zu wissen, ins Schwarze getroffen. Oliver wäre in der Tat ein guter, ja sogar ein vorbildlicher Christ gewesen, hätte er für die Menschen gebetet, die ihn ernährten und für ihn sorgten. Er tat es aber nicht, weil es ihm niemand beigebracht hatte.
»Gut! Du bist hier, damit du erzogen wirst und ein nützliches Handwerk erlernst«, sagte der rotgesichtige Herr in dem hohen Lehnstuhl.
»Also wirst du morgen früh um sechs Uhr damit beginnen, Werg zu zupfen«, fügte der bärbeißige Herr in der weißen Weste hinzu.
Für diesen zwiefachen Segen, der in der einfachen Tätigkeit des Wergzupfens lag, verbeugte sich Oliver auf Geheiß des Büttels und wurde dann in einen großen Saal getrieben, wo er sich auf einem harten und rauhen Lager in den Schlaf schluchzte. Welch schönes Bild der fürsorglichen Gesetze Englands! Sie lassen ihre Armenhäusler schlafen gehen!
Armer Oliver! Wie er so dalag, im