künftiges Geschick entscheidend beeinflussen sollte. Aber das hatten sie. Und zwar wie folgt:
Die Mitglieder dieses Vorstands waren äußerst verständige, scharfsinnige und lebenskluge Männer, und als sie ihre Aufmerksamkeit auf das Armenhaus richteten, fiel ihnen sofort auf, was gewöhnliche Leute niemals entdeckt hätten: Den Armen gefiel es dort! Für das niedere Volk war es geradezu eine öffentliche Vergnügungsstätte, ein Wirtshaus, wo man nicht zu zahlen brauchte, gratis Frühstück, Mittagstisch, Teetafel und Abendbrot, das ganze Jahr hindurch, ein steingewordenes Elysium, wo man sich nur verlustierte und nicht zu arbeiten brauchte. »Oho!«, sagten die Vorstände und machten ein schlaues Gesicht. »Wir sind die Richtigen, um diese Dinge in Ordnung zu bringen, wir setzen dem im Handumdrehen ein Ende.« Also stellten sie per Verordnung alle Armen vor die Wahl (sie wollten ja niemanden zwingen, sie nicht), langsam und allmählich im Armenhaus zu verhungern oder ganz schnell außerhalb desselben. Zu diesem Zwecke schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über die unbegrenzte Versorgung mit Wasser und mit einem Getreidehändler über die regelmäßige Lieferung kleinerer Mengen Hafermehls und gaben täglich drei Mahlzeiten dünnen Haferschleims aus, dazu zweimal die Woche eine Zwiebel und sonntags ein halbes Brötchen. Sie erließen noch weitere weise und menschenfreundliche Verordnungen, welche die Damen betrafen und hier nicht wiederholt zu werden brauchen, übernahmen es – angesichts der hohen Kosten eines Verfahrens im Gerichtshof Doctors’ Commons – freundlicherweise, arme Eheleute zu scheiden, und statt einen Mann dazu zu zwingen, für seine Familie zu sorgen, wie sie es bisher gehalten hatten, nahmen sie ihm die Seinen fort und machten ihn zum Junggesellen!
Man weiß nicht, wie viele Bittsteller aus allen Schichten der Gesellschaft in den letzten beiden Angelegenheiten um Unterstützung vorstellig geworden wären, hätte man diese nicht mit dem Armenhaus verknüpft. Die Vorstände waren jedoch Männer von Weitblick und hatten gegen diese Gefahr Vorkehrungen getroffen. Die fragliche Unterstützung war nicht ohne Armenhaus und Haferschleim zu haben, und das schreckte die Leute ab.
In den ersten sechs Monaten nach Olivers Umquartierung traten die neuen Verordnungen in Kraft. Anfangs war es recht kostspielig, weil die Ausgaben für die Leichenbestatter anstiegen und die Kleidung der Armenhäusler enger gemacht werden musste, da sie ihnen nach ein oder zwei Wochen Haferschleim um die abgezehrten, ausgemergelten Leiber schlotterte. Doch die Zahl der Armenhäusler nahm bald ebenso schnell ab wie sie selbst, so dass der Vorstand vollauf zufrieden sein konnte.
Der Saal, in dem die Jungen aßen, war ein großer Raum mit Steinfußboden, an dessen einem Ende ein kupferner Kessel stand, aus dem der Koch, zu diesem Zwecke mit einer Schürze bekleidet, zur Essenszeit mit einer Kelle den Haferschleim schöpfte, wobei ihm ein oder zwei Frauen zur Hand gingen. Von diesem Festtagsschmaus erhielt jeder Junge einen Napf voll, nicht mehr – außer an hohen Feiertagen, wenn es zusätzlich noch ein achtel Pfund Brot gab. Die Näpfe brauchten nie gesäubert zu werden, da die Jungen sie mit ihren Löffeln so blank polierten, dass sie glänzten. Hatten sie diese Tätigkeit beendet – was nie sehr lange dauerte, weil die Löffel fast so groß waren wie die Näpfe –, saßen sie da und starrten den Kessel an, mit so gierigen Augen, als wollten sie die Ziegelsteine, mit denen er eingefasst war, verschlingen, begnügten sich aber einstweilen damit, eifrig ihre Finger abzulecken, in der Hoffnung, ein paar Spritzer Haferschleim zu erwischen, die dort hängen geblieben sein mochten.
Jungen haben im allgemeinen einen gesunden Appetit. Oliver Twist und seine Gefährten ertrugen drei Monate lang die Qualen eines langsamen Hungertods, bis sie schließlich vor Hunger so toll und gierig wurden, dass ein Junge, der für sein Alter recht groß und an derlei nicht gewöhnt war (da sein Vater eine kleine Garküche betrieben hatte), sich gegenüber seinen Gefährten in düsteren Andeutungen erging: Wenn er nicht per diem einen weiteren Napf Haferschleim bekäme, dann fürchte er, eines Nachts noch den kleinen Jungen, der neben ihm schlief und zufällig ein schwächlicher Knabe zarten Alters war, zu verspeisen. In seinem Blick lag etwas derart Wildes und Hungriges, dass sie ihm ohne weiteres Glauben schenkten. Es wurde also beratschlagt und ausgelost, wer an diesem Abend nach dem Essen zum Koch gehen und Nachschlag verlangen sollte. Das Los fiel auf Oliver Twist.
Der Abend kam, und die Jungen nahmen ihre Plätze ein. Der Koch stellte sich in seiner Schürze an den Kessel, die Küchenhilfen aus dem Armenhaus gleich hinter ihm, der Haferschleim wurde ausgeteilt und vor der kurzen Mahlzeit ein langes Tischgebet gesprochen. Der Haferschleim verschwand, die Jungen tuschelten und gaben Oliver Zeichen, während seine Sitznachbarn ihn heimlich anstießen. Obwohl nur ein Kind, machten ihn der Hunger verzweifelt und die Not verwegen. Er stand vom Tisch auf, ging, Löffel und Napf in der Hand, zum Koch und sagte ein wenig erschrocken über seine eigene Kühnheit:
»Bitte, Sir, ich möchte noch mehr.«
Der Koch, ein rotwangiger, wohlgenährter Mann, wurde ganz bleich. Einige Sekunden glotzte er den kleinen Aufrührer bestürzt und verblüfft an, dann klammerte er sich haltsuchend am Kessel fest. Die Küchenhilfen waren starr vor Staunen, die Jungen vor Angst.
»Was?«, fragte der Koch schließlich mit schwacher Stimme.
»Bitte, Sir«, wiederholte Oliver, »ich möchte noch mehr.«
Der Koch schlug mit der Schöpfkelle nach Olivers Kopf, packte sich den Jungen und schrie laut nach dem Büttel.
Der Vorstand tagte gerade in streng vertraulicher Sitzung, als Mr. Bumble in heller Aufregung in den Saal stürmte und an den Herrn im hohen Stuhl gewandt sagte:
»Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir! Oliver Twist hat mehr verlangt!«
Bestürzung machte sich breit. Auf allen Gesichtern zeichnete sich Entsetzen ab.
»Mehr verlangt!«, rief Mr. Limbkins. »Reißt Euch zusammen, Bumble, und antwortet geradheraus. Verstehe ich recht, dass er mehr verlangte, nachdem er die ihm zum Abendessen zustehende Ration verspeist hat?«
»Das hat er, Sir!«, erwiderte Bumble.
»Dieser Junge wird noch mal am Galgen enden«, sagte der Herr in der weißen Weste. »Denkt an meine Worte, der wird noch mal am Galgen enden.«
Niemand widersprach dieser prophetischen Aussage des Herrn. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion. Oliver kam unverzüglich in Arrest, und am nächsten Tag wurde außen am Tor eine Bekanntmachung angebracht, die jedermann, der Oliver Twist der Gemeinde abnähme, eine Belohnung von fünf Pfund versprach. Mit anderen Worten, jedem, ob Mann oder Frau, der für welches Handwerk, Gewerbe oder Geschäft auch immer einen Lehrjungen brauchte, wurden Oliver Twist und obendrein fünf Pfund angeboten.
»Noch nie in meinem Leben war ich von etwas so überzeugt gewesen«, sagte der Herr in der weißen Weste, als er am nächsten Tag ans Tor klopfte und die Bekanntmachung las, »noch nie im Leben war ich von etwas so überzeugt gewesen, wie davon, dass dieser Junge am Galgen enden wird.«
Da ich im Laufe des Buches noch darlegen werde, ob der Herr in der weißen Weste recht behält oder nicht, würde ich bloß das Interesse an dieser Erzählung (so sie denn auf selbiges stößt) schmälern, wenn ich mich bereits jetzt in Andeutungen erginge, ob das Leben des Oliver Twist tatsächlich ein solch gewaltsames Ende nimmt.
Drittes Kapitel
Beschreibt, wie Oliver Twist beinahe eine Stellung antrat, die alles andere als ein Ruheposten gewesen wäre.
Nachdem er die frevelhafte und gotteslästerliche Missetat begangen hatte, mehr zu verlangen, blieb Oliver eine Woche lang streng bewacht in dem dunklen und einsamen Verlies, in das er aufgrund der Weisheit und Gnade des Vorstands gesperrt worden war. Auf den ersten Blick schien es nicht abwegig, anzunehmen, Oliver würde, hätte er der Vorhersage des Herrn in der weißen Weste den gebührenden Respekt gezollt, um den Ruf dieses Weisen als Prophet ein für alle Mal zu festigen, ein Ende seines Taschentuchs an einem Haken in der Wand befestigen und sich selbst am anderen aufknüpfen. Der Ausführung dieser Tat stand indes ein Hindernis im Weg, weil Taschentücher ganz entschieden als Luxusartikel galten und daher ausdrücklich auf in feierlicher Sitzung beschlossene, verbriefte und besiegelte Anordnung des Vorstands zukünftig und für alle Zeiten von den Nasen der Armen ferngehalten wurden. Ein noch größeres Hindernis