sehe sie überrascht an.
»Ich meine, es ist schade, dass du dich so schnell damit abfindest. Früher hättest du das nicht getan. Erinnerst du dich an unsere Studienzeit und wie du dich mit dem Dekan über die Führung der Universität gestritten hast? Du hast nicht aufgegeben, bis sich die Dinge geändert haben.«
Ich muss grinsen. Das waren tatsächlich fantastische Zeiten.
»Und du hast all das nicht für dich getan, Chris. Du hast dich für benachteiligte Studierende stark gemacht. Du wolltest die Welt verändern und hast dich nicht darum gekümmert, ob du damit etablierte Systeme infrage stellst.«
Sie holt Luft und fährt fort: »Es ist deine rebellische Seite, die ich in deiner Ablehnung der Geschäftsführerrolle vermisse. Du akzeptierst die Dinge so, wie sie sind, auch wenn du tief in dir drin weißt, dass es andere und bessere Ansätze gibt. Du zeigst das bereits mit deinen Teams.«
Ich will ihr widersprechen, kann ihren Punkt aber verstehen.
Ich frage sie: »Glaubst du, dass ich das Unternehmen retten kann?«
»Das weiß ich nicht, Schatz«, antwortet sie. »Aber wenn du es nicht versuchst, wirst du es niemals erfahren.«
Ich seufze und beginne an meiner Entscheidung, Pauls Angebot abzulehnen, zu zweifeln.
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wie ich anfangen soll«, sage ich nach einer langen Pause. »Es muss sich so viel bei HRS ändern. Das wird der Vorstand niemals akzeptieren.«
»Den letzten Teil wirst du nur herausfinden, wenn du den Vorstand fragst«, schlägt Kate vor. Sie lächelt und plötzlich leuchten ihre Augen: »Vielleicht weiß ich sogar, wie du das alles herausfinden kannst.«
3
BERNIE
Am nächsten Morgen verlasse ich das Haus neugierig, aber auch skeptisch. Ich bin auf dem Weg zu Bernie, den Kate vor einiger Zeit auf einer Konferenz kennengelernt hat. Auch wenn er sich offiziell bereits zur Ruhe gesetzt hat, scheint er immer noch einer der Hauptakteure bei The Facts zu sein. The Facts ist ein Unternehmen, das ehrliche, politisch neutrale Nachrichten veröffentlicht – unbeeinflusst von Lobbyisten. Nach Auskunft von Kate kooperieren sie mit Dutzenden Journalisten, die als Volontäre oder Angestellte arbeiten. Sie kennt nicht alle Details, aber aus ihren Gesprächen mit Bernie weiß sie, dass sie seit Jahren mit kleinen, selbstorganisierten Teams arbeiten – ohne Manager und ohne Machthierarchie. Sie weiß außerdem, dass sie sich kontinuierlich weiterentwickeln. Weil Kate sich so sicher war, dass Bernie mir helfen kann, habe ich ihn gestern Abend direkt angerufen. Er war sofort bereit, sich mit mir zu treffen und seine Erfahrungen mit mir zu teilen.
Bernie sieht jünger aus, als ich erwartet hatte; er hat einen klaren Blick und den ganzen Kopf voller grauer Locken. Ich hätte ihn niemals auf Mitte Sechzig geschätzt. Er schüttelt mir die Hand mit festem Händedruck und scheint ehrlich erfreut zu sein, mich zu treffen.
»Du bist also der neue Geschäftsführer von HRS, Chris?«, heißt er mich willkommen. »Komm’ herein.«
»Nicht wirklich«, murmel ich. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Natürlich«, lacht Bernie. »Ich ärgere dich nur. Aber ich bin froh, dass du es in Betracht ziehst. Kate hat mir von deinen Teams und deinem Führungsstil berichtet. Es ist keine einfache Aufgabe, ein ganzes Unternehmen so zu führen, aber es ist möglich. The Facts ist der lebende Beweis dafür.«
Unser Gespräch hat gerade erst begonnen, aber ich mag Bernie jetzt schon. Verrückt! Er wirkt besonnen und ruhig und dabei gleichzeitig voller Energie und Tatendrang. Er erzählt mir mehr von The Facts und bestätigt, dass sie tatsächlich ohne traditionelle Machthierarchie arbeiten. Die Mitarbeiter organisieren sich in kleinen Teams selbst und fällen viele Entscheidungen autonom.
»Bedeutet das, dass ihr eine komplett flache Organisation ohne Struktur habt?«, unterbreche ich ihn.
»Wir haben eine klare Struktur und klare Vereinbarungen, sodass Informationen und Einflussmöglichkeiten effektiv zu den richtigen Leuten gelangen.«
»Überhaupt nicht«, lacht Bernie. »Was soll das überhaupt sein, eine flache Organisation? Wir haben klare Strukturen und klare Vereinbarungen, die bestimmen, was wir tun und wie wir es tun. Bei uns sind Entscheidungen darüber, was passiert, in der Organisation verteilt. Eine klare Struktur hilft, dass wir gemeinsam alle notwendigen Arbeiten auch erledigen und damit die Organisation am Laufen halten.«
Ich verstehe noch nicht, wie Informationen und Einfluss ohne eine traditionelle Machthierarchie zu den richtigen Menschen gebracht werden können, aber Bernie fährt fort. Er wirkt aufrichtig enthusiastisch bezüglich der Arbeitsweise von The Facts – genau wie Kate es gesagt hatte.
Bernie erklärt, dass alle Informationen und Entscheidungen transparent sind – es sei denn, es gibt gute Gründe dafür, dass bestimmte Informationen vertraulich behandelt werden müssen. Das bedeutet auch, dass jeder und jede die volle Verantwortung für die eigene Arbeit übernimmt, ohne dafür Manager involvieren zu müssen.
Ich bin beeindruckt und erzähle ihm, was HRS macht und dass ich für die Abteilung verantwortlich bin, die die mobilen Apps entwickelt. Bernie zeigt sich sehr interessiert daran, wie wir agil arbeiten und welche Atmosphäre in meinen Teams herrscht. Ich erzähle Bernie auch von Pauls Anliegen an mich und wie es dazu kam. Ich führe aus, dass ich nicht Geschäftsführer werden möchte, weil der klassische Managementstil nicht zu mir passt. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie ich meinen Führungsstil auf ein ganzes Unternehmen anwenden kann. Bernie hört mir aufmerksam zu, bis ich zu Ende geredet habe.
»Wenn ich dich so reden höre, Chris, glaube ich, dass unsere Arbeitsweise bei The Facts dir und HRS wirklich helfen könnte. Unsere Arbeitsweise ähnelt der Art und Weise, wie du deine Abteilung führst. Wenn du möchtest, würde ich dir gerne helfen und dabei würdest du die Arbeitsweise bei The Facts kennenlernen.«
»Sehr gerne«, antworte ich.
Bernie lächelt.
»Wunderbar. Dann schlage ich vor, dass wir uns am Montag in den Räumen von The Facts treffen. Sagen wir gegen 13 Uhr? So kannst du direkt ein Gefühl für unsere Arbeitsweise bekommen. Das wird dir viel mehr nützen, als wenn ich dir erkläre, wie The Facts arbeitet.«
»Okay«, antworte ich. Aber ich kann meine Enttäuschung nicht verbergen, dass ich bis Montag warten muss. Ich bin wirklich neugierig, wie Bernie und seine Kollegen zusammenarbeiten.
4
THE FACTS
Ich erreiche das Büro von The Facts ein wenig vor der vereinbarten Zeit. Bernie macht uns beiden einen Kaffee und führt mich in eine gemütliche Sitzecke, in der wir in Ruhe miteinander reden können.
»Wir haben gleich unser monatliches Steuerungsmeeting«, sagt Bernie. »Komm’ doch einfach mit uns und schau’ dir das Meeting an. So kannst du wichtige und konkrete Elemente unseres Ansatzes kennenlernen.«
»Okay«, sage ich. »Aber was ist ein Steuerungsmeeting?«
»Lass’ uns am Anfang beginnen«, sagt Bernie. »Wir haben uns dafür entschieden, Soziokratie 3.0 – oder abgekürzt S3 – bei The Facts einzusetzen. Wir benutzen S3, um unsere Arbeit zu organisieren und unsere Organisation weiterzuentwickeln. S3 ist die aktuelle Entwicklungsstufe der soziokratischen Kreismethode, die in den Siebzigerjahren in den Niederlanden entwickelt wurde. Der Ansatz organisiert Unternehmen auf Augenhöhe.«
S3 ist die aktuelle Entwicklungsstufe der soziokratischen Kreismethode kombiniert mit agilen und Lean-Prinzipien sowie Techniken.
»Was S3 so kraftvoll macht«, fährt Bernie fort, »ist die Kombination des soziokratischen Ansatzes mit agilem und Lean Mindset.«
Ich