am Tisch unterm Fenster, vor mir das vollgeschriebene Blatt. Ich starrte auf die Zeichen, die Schlangenlinien und erkannte unter ihnen, dort auf dem Blatt, einen Jungen, bis über die Ohren in ein grau-weißes Laken gehüllt. Nur das dunkle Haupthaar drängt widerspenstig über den Rand der Decke. Der Junge ist tot, dachte ich und musste weinen. Schnell drehte ich das Blatt um, aber da kamen sie. Runde, schwarze Köpfchen, die auf Haken saßen, Kaulquappen ähnliche Wesen, die sich an ihren Schwänzen festhielten. Eine heftige Welle Zorn schüttelte mich. Nein, nicht weinen, nicht leiden und bemitleiden, tobte es in mir. Ich werde den Jungen aufwecken. Und dann kamen sie wieder, die runden schwarzen Köpfchen, die auf Haken saßen. Sie flossen aus meiner Feder. Mein erstes Werk, aufgebaut auf der schlichten Melodie der „La Carmagnola“. „Weißt du, woher der Titel kommt“, hatte mich Luigi gefragt. „Woher soll ich es wissen?“, fragte ich zurück. Meine Ungezogenheit lächelnd übergehend erklärte er es mir. Urheber waren Bauern aus Carmagnola, einem Dorf bei Turin. Sie wanderten nach Frankreich aus, ließen sich in Marseille nieder, lernten Französisch, aber trugen weiterhin ihre Tracht, eine Samtjacke mit zwei Knopfleisten, die Carmagnola. Bauern und Arbeiter sind das Volk, das vom Klerus dumm gehalten wird und vom Adel ausgesaugt. Daher der Name des Liedes.
An all das erinnerte ich mich, als ich den Marchese wahrnahm. Ich bekam einen feuerroten Kopf. Noch während des tosenden Applauses ging ich von der Bühne ab. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich meinen Vater. Er stand beim Marchese und lachte. Ja, er lachte! Wie war es möglich? Ein Revolutionslied musste den Marchese doch beleidigen und aufbringen. Einmal hinter der Bühne, dachte ich an Flucht. Aber wohin hätte ich mich flüchten können? Und überhaupt, da näherten sie sich schon, mein Vater und der Marchese. Sie lachten noch immer. Nun ja, vielleicht habe ich sie mit dem Vogelgezwitscher so gut amüsiert, dass „La Carmagnola“ ganz in Vergessenheit geraten war.
„Niccolò, warum hast du es so eilig? Der Marchese möchte dir gratulieren.“
Gratulieren? Dann musste er die Carmagnola überhört haben. Wie wunderbar! Ein unpolitischer Mensch vermutlich. Vater trat dicht an mich heran, beugte sich an mein Ohr und sagte mit gerührter Stimme:
„Der Marchese Di Negro ist ein weitgereister Mann und hält dich für den begabtesten Geiger unter der Sonne. Er fände keine Ruhe mehr, sagte er, würde er die Gelegenheit versäumen, dir den Weg an die Spitze zu ebnen.“
So bebend spricht Vater nur, wenn wichtige Personen zugegen sind. Bei Mama hören sich seine Sätze ganz anders an. Meistens schreit er sie hinaus und schreit er nicht, dann schnoddert er sie unverständlich in seinen Bart. Ich verneigte mich vor dem Marchese.
„Unglaublich, ja, ganz unglaublich fand er deine Variationen über ‚La Carmagnola‘.“
Ich hob den Kopf und sah völlig verwirrt und ungläubig in ein begeistertes Gesicht.
„O mio dio!“, brach es ungestüm aus dem Marchese heraus. „Was du aus dieser Melodie geschaffen hast, ist einfach wunderbar. Und das mit zwölf lächerlichen Jahren. Nach Mozart haben wir wieder ein Wunderkind.“
Der Vergleich mit Mozart beschämte mich. Niemand reichte an den großen Musiker heran.
Auf dem Nachhauseweg erzählte Vater ein wenig von dem jungen Adligen. Er treffe sich heimlich mit anderen Adligen, um über Genuas Zukunft zu diskutieren. Er gehöre zu den Novatori, die der verrosteten, von alten Männern regierten Republik Genua die Kehle durchtrennen wollten. Napoleon heiße ihr Held. Von manchen auch Buonaparte genannt.
6
Parma 1795–1796
Marchese Di Negro zahlte die Reise nach Parma und übernahm alle Kosten, die der Aufenthalt dort forderte. Vater behauptete, Giacomo Costa könne mir nichts mehr beibringen, ja, er fürchtete sogar, unter Costa würde ich nichts weiter als ein zappeliger Schulgeiger werden. Papa Paganini genügte das nicht, deshalb setzte er alles daran, mich dem berühmten Lehrer und Violonisten Alessandro Rolla vorzustellen. Dieser Rolla dirigierte das Herzogliche Orchester des Herzogtums Parma. Auf ihn war ich äußert gespannt, musste mich allerdings noch in Geduld üben, denn die Reise in der Kutsche war anstrengend und schien kein Ende nehmen zu
wollen.
Nach den ersten Kilometern stieg ein finsterer Bursche ein. Unter buschigen rabenschwarzen Augenbrauen fixierte er mich böse. Seinem Aufzug nach zu urteilen kam er aus der Toskana, sah aber aus, als käme er direkt aus der Hölle. Ich drückte mich, so tief ich konnte, in meinen Sitz. Am liebsten wäre ich in die Rückenlehne geschlüpft. Glücklicherweise stieg der Toskaner an einem Ort namens Stradella aus. Vater, ich und eine Dame, die seit einiger Zeit mit tief ins Gesicht gezogenem Hut in einem Winkel des Reisewagens kauerte, holperten in die Dämmerung hinein, da hielt der Kutscher plötzlich vor einer Pferdewechselstelle mit angegliedertem Wirtshaus. Unser Gepäck wurde abgeladen und von einem jungen Burschen in ein enges Zimmer unters Dach des Wirtshauses geschleppt. Dort stellte er es ab, doch statt zu verschwinden, blieb er in ergebener Haltung stehen. „Der will etwas Palanche!“, sagte mein Vater und meinte damit Trinkgeld.
Später aßen wir gekochten Reis, mit Käse abgeschmeckt, und einige Stücke Schweinefleisch. Vater trank dazu einen Vino rosso, ich bekam Wasser. Die Wirtin strich mir über den Kopf und sagte: „Iss, Bambino! Iss, du bist ja dünn wie ein Ästchen.“
Früh am nächsten Morgen sollte es weitergehen. Doch die Pferde ließen sehr lange auf sich warten. Ich wurde ungeduldig, zappelte herum, bis mir Vater auf den Hinterkopf schlug. Endlich kamen junge, derbe Kerle, die lustlose Gäule hinter sich herzerrten. Dann ging es los, viele Stunden über holprige Straßen. Einmal wurden wir so heftig durcheinander geschüttelt, dass ich mit der Nase voraus in den Schoß meines Nachbarn – eines Jesuitenpadres, der unter Wadenkrämpfen litt – purzelte.
Wir übernachteten in Piacenza, einer schmutzigen, verfallenen Stadt, der Markt war grasüberwuchert mit verwahrlosten Wallanlagen und halb verschütteten Gräben. Jedes Haus stand düster da und blickte mürrisch auf seinen Nachbarn. Gott sei Dank fuhren wir nach der ersten Speise weiter und erreichten Parma am frühen Nachmittag des folgenden Tages. Nun wollte ich weder essen noch trinken. Ich wollte nur Geige spielen. Daran war ich gewöhnt, das war mir vertraut. Meine Finger verlangten nach dem Instrument, mein Herz sehnte sich nach seiner Berührung. In Gedanken zupfte ich eine hübsche Melodie, die mir unterwegs eingefallen war.
7
Am kommenden Tag eilten wir sogleich zu Maestro Rolla und waren völlig überrascht, trotz vorsorglicher Anmeldung nicht empfangen zu werden. Er sei unerwartet erkrankt und ruhe, erklärte die freundliche Signora Rolla. „Che guaio! Für nichts und wieder nichts die lange Reise!“, knurrte mein Vater mit vor Wut grünem Gesicht. Wieder warten, dachte ich verärgert. Dabei muss ich so unglücklich ausgesehen haben, dass die Signora mitleidig vorschlug:
„Warten Sie bitte im Arbeitszimmer. Ich sehe mal, was ich für Sie tun kann. Vielleicht empfängt er Sie morgen oder übermorgen. Dann sind Sie nicht ganz umsonst gekommen.“ Bei diesen Worten öffnete uns die Signora die Tür zu Rollas Studierzimmer, wo sie meinem finster blickenden Vater einen Platz anbot.
Ich musste mich stehend gedulden. Weil ich aber nervös und aufgeregt war, wanderte ich im Zimmer auf und ab. Da entdeckte ich auf dem Tisch nahe beim Fenster eine Partitur. Sie sah so aus, als wäre sie frisch komponiert worden. Ich konnte die Tinte noch riechen. Mein Vater beobachtete mich. Während ich um die Partitur schlich wie ein Fuchs um die Beute, spürte ich Vaters stechenden Blick auf meinem ganzen Körper. Ob er wohl das Gleiche dachte wie ich? grübelte ich. Das werden wir gleich sehen. Flink packte ich meine Geige aus, stimmte sie geschwind und postierte mich vor dem Tisch. Die Partitur lag etwas schräg und die Noten schienen wie flüchtig auf die Linien geworfen.
„Worauf wartest du?“, zischte Padre Paganini. Ich hatte also richtig gehandelt. Ich unterließ es, das Blatt gerade hinzulegen, sondern folgte augenblicklich dem Befehl meines Vaters. Ohne Zögern und Stocken spielte ich die Melodie. Vater zuckte mit dem Kopf, seine Augen verloren nichts von ihrer düsteren Farbe, doch sein Gesicht leuchtete auf wie von der Sonne beschienen. Das alles erfasste ich ganz nebenbei, in wenigen Sekunden, denn gleichzeitig tauchte ich vollständig in die fremde Melodie, eroberte sie, machte sie zu der meinigen.