„Die Franzosen scheren sich einen Dreck um unsere patriotische Entwicklung. Aber, was zum Teufel, geht mich das alles an?“
Gemütlich streckte er die Beine aus und gab sich den wohltuenden Sonnenstrahlen hin. Die Hintergrundmusik wiegte ihn. Niccolòs Klänge füllten sich mit Wärme und Herz, sein Bogenstrich griff energischer und ließ keinen Widerspruch mehr zu. Ja, brummelte Antonio tief befriedigt, was geht mich das alles an. Und allmählich döste er ein.
Und es ging ihn doch etwas an. Die politische Situation durchkreuzte Antonios Pläne. Napoleons Feldzug oder Geldzug hatte recht Aufsehen erregend begonnen. Das Königreich Sardinien legte widerstandslos die Waffen nieder, Mailand ließ sich mühelos erobern, nur in Lodi musste der Sieg erkämpft werden. Parma empfing ihn sogar freundlich. Manche jubelten ihm zu, blähten sich stolz auf, wenn der Blick des sagenumwitterten Generals zufällig auf ihnen ruhte, andere wiederum spähten keifend hinter vorgezogenen Vorhängen auf den Einmarsch und wünschten ihm den Tod. Machtgierig, geldgierig, vom Ruhm besessen, zischte es im Verborgenen. Er will die Welt, hieß es, er will Gott vom Thron stürzen, er ist vom Teufel, schaut ihn nur an.
Antonio beschloss, wie so manches Mal in seinem Leben, sein Fähnchen nach dem günstigen Wind zu richten. Und der kam von Napoleon. Diese Brise konnte eventuell auch seinem Söhnchen zum Vorteil gereichen. Während Napoleon Modena einnahm, schließlich Mantua bedrohte, das den Handelsweg nach Österreich sichern und das Piemont sowie das Kaiserreich Österreich auseinandertreiben sollte, spielte Niccolò vor den Landesherren in Colorno und Sala. Voller Mitleid erwarteten die blaublütigen Herrschaften in Sala die ersten Töne des schmalen Knaben, der nur zögernd vortrat, an dessen Arm die Geige schwer wie die Glocke der Chiese Santa Maria Maddalena zu hängen schien und dessen langes, durchsichtiges Gesicht von der Glut zweier nachtschwarzer Augen beinahe verzehrt wurde. Er führte seine Variationen zu „La Carmagnola“ vor. Die Zuhörer saßen reglos da und starrten gnädig auf den blassen Dreizehnjährigen, dessen Leben und Kraft mit unvorstellbarer Zielsicherheit in die Geige floss. Dabei fühlte Niccolò in Sala eine große Schwäche, die er in Colorno nicht bekannt hatte. Die Herbstluft draußen war nasskalt, der Saal überheizt. Er hatte schon geschwitzt, als er ankam, doch nun rann der Schweiß in Strömen an ihm herab. Sein Haar klebte, seine Kleidung klebte, seine Beine zitterten vor Mattigkeit, aber in seinen Fingern pochte wild das Leben, in seinem Kopf leuchtete sternenhell die Partitur, in seinem Herzen machte die Musik Freudensprünge. Kaum verwehte der letzte Ton im Saal, schnellte das Publikum von seinen Sitzen hoch, applaudierte, jubelte, stieß Bravorufe aus. Niccolò vernahm die Geräusche, so wie er das Rauschen des Meeres vernahm, wenn er auf den Anhöhen der Bucht von Genua spazieren ging. Er verbeugte sich mehrmals, schwankte und spürte dann ein paar Arme, die ihn stützen.
Er war erkrankt. Der Herbst in Parma bekam seiner schwachen Lunge nicht. Er hustete, atmete röchelnd, hatte blutigen Auswurf. Vater Antonio machte ein sehr besorgtes Gesicht, denn Niccolò sah wirklich elend aus. Was tun? Der Junge sehnte sich nach Genua zurück, eine Reise jedoch würde er in diesem Zustand nicht überstehen. „Trotz der verhassten Franzosen hat sich bis jetzt alles vielversprechend entwickelt“, grummelte Antonio in sich hinein. „Innerhalb eines Jahres hat der Junge gelernt, wofür andere ein achtjähriges Studium benötigen. Seine Konzerte sprechen sich herum, er wird als junges Talent bejubelt, die Kassel klingelt, ein Haus im Polcevera-Tal rückt in unmittelbare Nähe und nun das …!“ Antonio raufte sich nicht lange des Geldes wegen das Haar, sondern zitierte den besten Arzt der Region herbei. Als der Mediziner jedoch auch ein besorgtes Gesicht machte, wurde Antonio wirklich bekümmert.
„Lungenentzündung ist nicht harmlos, Signore, und der Kleine ist ja so zart gebaut wie eine Amsel. Sein Brustkorb misst kaum mehr als der Durchmesser meiner gespreizten Finger!“, konstatierte der Doktor, nachdem er Niccolò sorgfältig untersucht hatte. Unwillkürlich betrachtete Antonio die Hände des Dottore. Sie waren unverhältnismäßig groß.
„Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, ich zahle alles. Er muss wieder auf die Beine kommen.“
„Sollte er auf die Beine kommen, müssen Sie ihm unwiderruflich einen Monat Ruhe gönnen, sonst könnten Sie die Geige bald für horrende Panache verkaufen.“
„Ich bitte Sie um etwas mehr Pietät, Dottore! Sie sind doch Katholik. Mein Sohn ist nicht nur ein Genie, er ist auch ein Stehaufmännchen. Schon zweimal hat er dem Tod die Tür gewiesen.“
„Sehr schön! Das zeugt von starkem Lebenswillen. Hier schreibe ich Ihnen auf, was der Pharmazeut mischen soll.“ Er kritzelte ein paar unleserliche Worte auf seinen Notizblock und reichte Antonio den Zettel. „Fiebersenkende und schleimlösende Mittel und einen hustenstillenden Sirup. Sie, Signore, sorgen dafür, dass er im Bett bleibt, die Geige nicht anrührt und sehr, sehr viel trinkt. Natürlich, bei Santa Maria, kein Brunnenwasser. Übersteht er die nächsten vier Tage und ist am fünften wohlauf, darf er zurück nach Genua. Und …“,
er hob drohend den wurstigen Zeigefinger seiner riesigen Hand, „drei bis vier Wochen Ruhe, gutes Essen, Spaziergänge in der Bucht von Genua, falls es Buonaparte erlaubt.“
Buonaparte, klein geratener Sohn verarmter Adeliger, geboren in bescheidenen Verhältnissen eines rückständigen Korsikas, das unter der Rivalität und endlosen Vendetta der Clans verfaulte, sprach den korsischen Dialekt und strebte nach Höherem. Als Zehnjähriger trat er in die Militärschule ein, verließ sie mit fünfzehn als Leutnant, avancierte zum Oberfeldwebel und erhielt den Auftrag, Toulon aus englischer Hand zu reißen. Die Stadt fiel und Buonaparte, inzwischen vierundzwanzig, wurde zum General ernannt. Anschließend trieb er sich wie alle Generäle in Paris herum, entkam der Säuberungsaktion des Terrorregimes und warf den Royalistenaufstand gegen das Direktorium nieder. Zur Belohnung unterstellte man ihm die italienische Armee. Gleich anfangs ließ er sich die standhaftesten Verfechter der italienischen Befreiungsidee vorführen, unter anderen einen gewissen Buonarotti, den er aus dem Gefängnis holte und zum Chef der italienischen Patrioten auserkor. Noch im selben Jahr änderte Oberbefehlshaber Buonaparte seinen Namen in Bonaparte und heiratete Josephine de Beauharnais.
Vor dieser Josephine, die nun Bonaparte hieß, spielte Niccolò am 27. November 1797. Er fühlte sich besser, wenn auch wohl nicht ganz gesund, denn seine Beine zitterten immer noch ein wenig und der Husten quälte ihn nur dann und wann. Die Genueser Luft jedoch vollbrachte Wunder. Und vor allem Mama. Sie wachte mit Argusaugen darüber, dass er sich nicht verausgabte, viele Kräutertees trank, seine Medikamente einnahm, solange sie nötig waren, und nur bei Sonnenschein spazieren ging. Ja, sie sorgte sogar für saubere Bettwäsche, was Niccolò sehr schätzte. Bis jetzt hatte die saubere Wäsche nie sauber gerochen, da sie Teresa im öffentlichen Waschbecken, vielleicht auch in irgendeinem Fluss oder Rinnsal schrubbte und am Fenster des Hauses der stinkenden Passo di Gatta trocknete. Bald jedoch, ja bald würde sie köstlich riechen, denn der Vater beabsichtigte, ein Haus im Polcevera-Tal zu kaufen.
10
Üblicherweise wurde der Herbstbeginn von den Genuesern gefeiert. Die Läden schlossen auch unter der Woche, die Kirche und manche Häuser erstrahlten im Lichterglanz aufgestellter oder in die Mauern eingelassener Fackeln. In diesem Jahr waren die Gemüter durch die französische Besatzung verwirrt und die politische Situation erschüttert. Jene, die in Napoleon den Tyrannen witterten, rotteten sich zu einem Aufstand zusammen, die anderen stellten Wachskerzen an die Fenster, weil sie noch immer an den Befreier glaubten. Giancarlo Di Negro lud an einem klaren Novembertag zur festlichen Begrüßung und Ehrung Josephine Bonapartes in seine Residenz in der Via Lomellini ein. Der Palast lag inmitten einer bewohnten Straße, hatte aber einen traumhaften Garten im Innenhof. Schmale, von Orangen- und Zitronenbäumen begrenzte Pfade wanden sich hindurch und im Sommer verströmten die Kamelienhaine einen Duft, der jetzt im November noch zu erahnen war. In den hohen, stuckverzierten Räumen hingen wertvolle Gemälde, über den Türen prangten Allegorien als Goldintarsien und die marmornen Säulen leuchteten cremefarben. Am schönsten war der Blick aus den hohen Fenstern im oberen Stockwerk. Ein Teil Genuas, der Hafen und das Meer lagen ruhig und wie gemalt dem Betrachter zu Füßen.
Eigentlich stand den Di Negros der Sinn nicht nach Feiern. Vor nicht ganz zwei Wochen war die Villa von Emilia Di Negros Schwester