Kreativität, Energie und Entspannung stimulieren.
Für international gefeierte Stars lebten Kurt und Courtney ein ziemlich schlichtes Leben. Es gab weder Wachposten noch muskulöse Fleischberge als Leibwächter. Kurt nahm ein normales Taxi in die Stadt, kaufte sich einen Burger bei McDonald’s und trug dabei als Tarnung nur einen tief ins Gesicht gezogenen ziemlich lachhaften Elmer-Fudd-Hut. Einem Besucher gelang es sogar einmal, sie in ihrem Hotelzimmer aufzuspüren: Er betrat das Hotel, nahm den Aufzug in ihr Stockwerk und spazierte einfach ins Zimmer. Kurt und Courtney saßen gemeinsam im Bett und schauten sich einen sinnlosen Leif-Garrett-Film im Fernsehen an. „Oh Hi“, sagte Courtney einfach, ohne mit der Wimper zu zucken.
Kurt wirkte zerbrechlich, wie ein Kleiderständer. Seine Sprache war eine Art monotoner Singsang. Die vielen Zigaretten und die Proben hatten seine Stimmbänder bis auf ein dumpfes Brummen abgenutzt. Dadurch wirkte er traurig und verbraucht, als hätte er gerade einen Heulkrampf gehabt. Aber so war das eben. „Alle glauben, dass ich nichts als ein emotionales Wrack bin, ein absolut negativer schwarzer Stern – und dass das immer so ist“, sagte Kurt. „Und ich werde immer gefragt, was mit mir los ist. Dabei ist doch alles in Ordnung. Ich bin überhaupt nicht traurig. Ich bin schon so weit, dass ich mich selbst betrachte und mir versuche vorzustellen, was die Leute in mir sehen. Vielleicht sollte ich mir die Augenbrauen abrasieren. Das wäre eine gute Idee.“
Obwohl Kurts Charisma fast mit den Händen greifbar war, war er extrem zurückhaltend. Man tat sich leichter, wenn man beim Versuch der Einordnung seiner Reaktionen übersteigerte: ein zerstreutes „Hmph“ war in Wirklichkeit ein „Wow!“; ein kurzer Gluckser ein Lachanfall; ein böser Blick ein Mordanschlag.
Kurt hatte viele unterschiedliche Gesichter, wie auf seinen Fotos. Manchmal sah er aus wie ein engelsgleicher Knabe, manchmal wie ein verlorener Herumtreiber, manchmal wie einer, der Autogetriebe reparieren kann. Und manchmal, bei ganz bestimmten Lichtverhältnissen, wies er eine unheimliche Ähnlichkeit mit Axl Rose auf. Sein blasser Teint wurde zum Teil von schmutzigen Bartstoppeln verdeckt. Unter den ungewaschenen Haaren – seinem Markenzeichen – konnte man eine zornig rote Stelle auf seiner Kopfhaut sehen. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte er die Haare erdbeerblond gefärbt. Meistens trug er Pyjamas und war ständig unfrisiert. Obwohl die Tageszeit mit seinen Plänen nicht viel zu tun hatte, hatte er auf dem Handgelenk ständig eine Uhr mit einem Porträt von Tom Peterson, dem Besitzer einer Haushaltswarenkette in Oregon.
Kurts Augen waren so extrem blau, dass er fast immer ein wenig erschrocken wirkte. Das und seine Pyjamas ließen ihn wie einen neurotischen Burschen aussehen, der orientierungslos im Haus eines Vietnam-Veteranen herumtappt. Dabei entging ihm aber nicht das Geringste.
Anfang März, nach den Aufnahmen zur neuen Nirvana-Platte In Utero, waren Kurt, Courtney und ihr Baby Frances in ein ziemlich großes Miethaus mit Blick auf den Lake Washington gezogen. Kurt saß am Küchentisch und spielte mit einem Plastikmodell eines Menschen. Es sah aus, als würde er es ausweiden, dazu rauchte er eine Zigarette nach der anderen. „Mir gefällt, dass man es auseinandernehmen kann, bis man die Eingeweide sieht“, sagte er. „Organe faszinieren mich. Sie funktionieren fast immer. Man kann sich kaum vorstellen, dass man so giftige Sachen wie Alkohol oder Drogen in das System schütten kann, und das Zusammenspiel klappt trotzdem – zumindest eine Zeit lang. Es verblüfft mich schon, dass sie es überhaupt vertragen.“
Das Haus war nur sehr sparsam möbliert, überall lag beigefarbener Teppichboden, die Wände waren kahl. Es sollte nur eine vorübergehende Bleibe sein. Kurt und Courtney wollten noch in diesem Jahr in ein umgebautes Haus in einer Kleinstadt wenige Meilen außerhalb von Seattle ziehen, außerdem waren sie auf der Suche nach einem Grundstück auf dem Capitol Hill, dem Hip-Viertel von Seattle. Im ersten Stock waren das Schlafzimmer, das Kinderzimmer und das Malzimmer von Kurt. Auf einer Staffelei befand sich das Porträt einer vertrockneten, elend aussehenden Kreatur mit skelettartigen Armen und leblosen schwarzen Augen. Im Badezimmer im Erdgeschoss stand der MTV-Award für die besten Newcomer, ein kleiner silberner Astronaut, und hielt die Toilette immer genau unter Beobachtung. Das Kindermädchen von Frances, Jackie, hatte sein Zimmer ebenfalls im Erdgeschoss. Im Esszimmer war eine Spielzeugautobahn aufgebaut.
Ein Zimmer im Haus war eine große Rumpelkammer. Auf dem Boden häuften sich alte Briefe, Notizen, Demobänder, Platten, Fotos und Posters aus Kurts musikalischen Anfangszeiten. An einer Wand lehnte Courtneys buddhistischer Gebetsschrein. Sie benutzte ihn nicht oft – wahrscheinlich, weil sie in dem ganzen Durcheinander gar nicht bis zu ihm durchkam. Aus einem umgestürzten braunen Papiersack kullerten ein paar Colonel-Sanders- und Pillsbury-Doughboy-Puppen aus Plastik.
Überall gab es Gitarren, sogar im Badezimmer. Eine klangvolle alte Martin lag im Wohnzimmer direkt neben einem bescheidenen rotlackierten Instrument mit Blumenmuster.
Die sieben Monate alte Frances Bean Cobain war ein schönes Baby. Sie hatte die durchdringenden blauen Augen ihres Vaters und die Züge ihrer Mutter. Ihre Eltern schenkten ihr angesichts des Besuchers fast übertrieben viel Aufmerksamkeit, aber man sah deutlich, dass sie sie wirklich liebten. Kurt schien etwas lockerer im Umgang mit Kindern als Courtney, aber beide beherrschten die üblichen „Goo-Goo“-Geräusche ziemlich gut.
Frances wirkte Wunder für Kurt. „Er schaut sie immer an und sagt: ,Genau so war ich! Genau so war ich!’“, sagte Courtney. „Man kann einen Menschen nicht von Grund auf verändern, aber ich habe das Ziel, Kurt wieder so glücklich wie damals zu machen. Aber es ist sehr schwer, weil er andauernd mit irgendetwas unzufrieden ist.“
Eines Abends klimperte Courtney im Wohnzimmer im ersten Stock auf einer akustischen Gitarre. Kurt war währenddessen in der Garage und schlug neben dem gebrauchten Volvo auf ein klappriges Schlagzeug ein, das von einer Tour in grauer Vorzeit übriggeblieben war. Die Garage war vollgestopft mit einer Unmenge Schachteln voller Papier, Bilder, Gitarrensaiten und jeder Menge Ramsch von jahrelangen Secondhand-Shop-Einkaufstouren. Zwei Schachteln platzten schier vor durchsichtigen Plastikfiguren – Männer, Frauen, sogar Pferde. Gleich daneben waren ein Verstärker, eine Bassgitarre und das einzige Stück im Haus, das als Luxus gelten konnte: ein Space-Invader-Videospiel, für das Kurt ein paar Hundert Dollar gezahlt hatte. Seine besten Ergebnisse speichert er mit Kürzeln wie „COK“, „POO“ oder „FUK“ ab.
Unsere Gespräche waren sehr offen. Kurt hatte eine einfache Erklärung für seine Offenherzigkeit. Jeder hat es gelesen“, sagte er über seine oft publizierten Heroinprobleme,„also kann ich es gleich zugeben und versuchen, dem ganzen etwas Perspektive zu geben. Die Leute glauben, dass ich seit Jahren ein Junkie bin. In Wahrheit war ich nur sehr kurz drogenabhängig.“
Darüber hinaus hatte er keine Angst, den gewaltigen Mythos um die Band oder sich selbst zu zerstören. Ganz im Gegenteil. „Ich wollte nie, dass wir mystifiziert werden“, sagte er einmal zu mir. „Es gab nur am Anfang einfach nichts über uns zu sagen. Jetzt, nachdem einige Zeit vergangen ist, haben wir eine Geschichte. Trotzdem denke ich jedesmal nach unseren Gesprächen: ,Gott, mein Leben ist so verdammt öde im Vergleich zu so vielen Menschen, die ich kenne.‘“
Kurt wollte vieles richtigstellen. Es gab so viele Gerüchte über ihn, seine Frau und ihr Baby, dass er es für angebracht hielt, alles genauso zu erzählen, wie es war. Seine Erzählungen wirkten zwar manchmal selbstgerecht und gespickt mit krampfhaften Erklärungen und Widersprüchen, aber selbst diese verzerrte Darstellung enthüllte vieles über sein Leben, seine Kunst und die Zusammenhänge zwischen beidem.
Kapitel eins
Ein kleiner aufmüpfiger Junge mit fettigen Haaren
Aberdeen, Washington (16.660 Einwohner), liegt hundertacht lange Meilen südwestlich von Seattle weit draußen an der äußersten Küste des Staates Washington. In Seattle regnet es schon häufig, aber in Aberdeen noch mehr, bis zu 200 cm pro Jahr. Das sorgt für eine andauernde Dunstglocke über der Stadt. Der nächste Freeway ist weit, daher dringt nichts herein und kaum etwas hinaus.
Kunst und Kultur überläßt man hier lieber den hochnäsigen und großkotzigen Typen drüben in Seattle – zu den „faszinierenden Aktivitäten“, die in einer Broschüre der Grays Harbour County Chamber of Commerce aufgelistet sind, zählen Bowling, Motorsägen-Wettkämpfe