wild draufhalten war nicht die Rede. – Die Platten sind meine, dass wir uns da ganz klar verstehn!«
»Selbstverständlich«, antwortete ich dienstfertig, »ich werde Ihnen umgehend einen Abzug zukommen lassen, Herr Krupp.«
»Keinen Abzug; die Platten! Und zwar sofort.«
»Tut mir aufrichtig leid«, versuchte ich es noch mal auf die servile Art, »aber die Fotoplatten sind und bleiben ...«
»Die Platten her, sonst zieh ich sie eigenhändig aus Eurer Kiste da!«
Und Krupp ballte die Faust, oder besser: das Fäustchen. Trotzdem reichte dieser mäßig martialische Anblick aus, die schlankranken Jünglinge in Berserker der übelsten Sorte zu verwandeln. Von einer Kakophonie aus derbem »Puta de madre!«-, »Che palle!«- und »Mama mia!«-Gezeter begleitet, kamen sie langsam, ganz langsam, leise, ganz leise eine Capri-Schnulze summend, auf mich zu. Scheint’s ohne überhaupt zu bemerken, dass sie einen Tisch voller Flaschen und Gläser umstießen, dass ein Stuhl krachend zu Bruch ging, dass eine der hochgereckten Fäuste sich in einem Gobelin verfangen hatte und diesen aus seiner Verankerung riss. Schließlich standen sie so dicht vor mir, dass meine Nase übelst beleidigt wurde von dieser geballten Mixtur aus Amaretto-, Prosecco-, Grappa-Atem, die mir entgegenschlug. Die Luft vor meinen Augen flimmerte wie eine Fata Morgana. Bevor die aufgebrachten Gesellen einen kurzen Zwischenstopp einlegten, als müssten sie doch noch so was wie einen Rest von Beißhemmung überwinden, um mir endgültig an den Kragen zu gehen.
Daheim hatte man Friedrich Alfred Krupp das Label »Kanonenkönig« verpasst, genau wie seinem Vater. Friedrich Alfred galt – keineswegs zu Unrecht – als einer der Hauptmatadoren der aggressiv-militaristischen Politik des Kaiser-Wilhelm-Reichs. Auf Capri hingegen hatte er in dieser Einsiedlerhöhle hoch überm Meer sein Refugium für jene Fantasien installiert, die so gar nicht zu dem nach außen getragenen Bild des stahlharten Fabrikanten passten. Hier tauchte er ein und ab in kindlich romantische Sphären. Sodass für uns Heutige sogar höchst zweifelhaft erscheinen mag, ob die andere von ihm an den Tag gelegte, allerdings ausgesprochen gesellschaftsfähige Obsession, seine Tätigkeit als Forscher der Meeresfauna nämlich, aus echtem zoologischen Interesse herrührte oder nur dazu diente, seiner eigentlichen Leidenschaft einen Deckmantel umzulegen. Dass er indes ein ausgeprägtes Doppelleben führte – zu Hause eingebunden in ein knallhartes System äußerer Zwänge, auf Capri dagegen verschwimmend in den sonneglitzernden Weiten des tyrrhenischen Meers –, das steht außer Frage.
Quasi als Memento des reichsdeutschen Alltagslebens brachte er neben seinem, sagen wir: artverwandten Ingenieur auch diesen von Julius Fahrenhorst ›Teutone‹ getauften Christian Wilhelm Allers mit nach Capri. Drei Jahre jünger als Krupp, also Mitte vierzig und ein damals im ganzen Reich äußerst populärer Zeichner, der sich vor allem durch seine Bismarck-Porträts einen Namen gemacht hatte. Und eben dieser Virtuose der Tuschefeder würde wenige Wochen nach jener letzten Spektakelparty in der gotisch gestylten Grotte zum Sündenbock gekürt werden. Doch folgen wir der Chronologie des Fahrenhorstschen Reports.
Gut, du hast mich als jungen Mann nicht gekannt, aber ich darf wohl sagen, dass meine Muskel-, gut, vielleicht nicht -berge, aber doch -hügel ähnlich straff waren wie deine heute. Und so wehrte ich mich nach Kräften und drosch mit der bleischweren Fotokamera auf die wild gewordene Rotte der Kruppschen Lustkomplizen ein. Dass im Zuge des einen oder andern wohl platzierten Streichs eine Mandoline saitensprengend zu Bruch ging und ein Satz wertvoller Porzellanvasen von der Anrichte gefegt wurde – na ja nun, auf gewisse Verluste konnte ich angesichts der angespannten Situation keine Rücksicht nehmen. Als Quittung für meinen einsamen und, wie du mir glauben magst, mit Schmiss und Hingabe vorgetragnen Kampf erntete ich einen bunten Strauß Faustschläge, der dem auf mich herabregnenden Wolkenbruch aus fauchenden Flüchen in wenig nachstand. Mit der am ausgefahrenen Stativ geschwungenen Kamera aber verfügte ich über eine verdammt wirksame Distanzwaffe, die mir jeden Bengel, dem es gelungen war, sich bis auf Tuchfühlung an mich ranzuarbeiten, wieder vom Leib schaffte. Und im Schwung meiner Rundumschläge posaunte ich, ein jeder solle, verflucht noch eins, bleiben, wo er sei und der Pfeffer wachse. »Sonst tanzt der Hammer. – Zurück, ihr Schweine, oder euch fliegt das Ding hier um die Ohren!«
Offensichtlich war ich nicht der Einzige, der davon beeindruckt war, welch streitbare Figur ich hier abgab. Um die aufgeputschte Stimmung aufrechtzuerhalten und seine Jungs nur ja davon abzubringen, den Schwanz einzuziehn und den Rückzug anzutreten, brüllte Krupp: »Voran! Schickt diesen Hanswurst in die Pampa!« Und er hängte noch eine Girlande unaussprechlicher Kraftausdrücke hintendran, die ich deiner unverdorbenen Seele nicht zuzumuten gedenke. Aber es half irgendwie alles nichts, Krupps Gezeter kam einfach nicht mehr als furioser Furor rüber. Sein anfänglich bassdröhnender Befehlston brach ihm unversehens auf halber Strecke weg. Und übrig blieb nur ein spitzes Fiepsfispelstimmchen. Der Pfeffersack schnappte mit asthmatischem Röcheln nach Luft und sein linkes Augenlid führte zitternd und zuckend einen wirren Tanz unter seiner Braue auf.
Angesichts dieser Situation dürfte es auch in deinen Augen entschuldbar sein, dass mir – angestachelt von Krupps zerbröselnder Stimme und dem Damoklesschwert meiner kreisenden Kamera – der Gedanke durch den Kopf schoss, da müsst’ sich verdammt ’n bisschen mehr draus machen lassen als bloß das Salär von Krupps Margarethe. Während ich im Zeichen der angespannten Lage die von Krupp vor wenigen Stunden versprochene Fotografengage ja wohl abhaken konnte. Ersatz musste her! Ersatz aus anderen, wenn auch verwandten Quellen.
Aber von den Penunzen mal ganz abgesehn, ich meine, irgendwie sollte die Sache mir ja schließlich auch Spaß machen. Ich begeistere mich nun mal für Geschichten, die was von einem Labyrinth haben, mehrere Ausgänge und mehrere Eingänge; und so wie sich die Sachlage hier darstellte, konnte ich ruhig den ein oder andern Knoten noch knüpfen, ohne dass mir das Ganze übern Kopf wuchs. Ich meine, immer nur der kleine brave Detektiv, der verschollenen Ehemännern hinterherfahndet! Warum sollte ich mich derart unter Preis verkaufen?! Bloß Informationen über die Untaten andrer Leute liefern, statt das Flämmchen auch selbst ein bisschen zu schüren! Wär doch zu schade, findest du nicht? Zu schade, wenn die Capri-Chose mit meiner Heimkehr ihr Bewenden gehabt hätte. Nein, war doch wohl nahe liegend, da noch ordentlich ein paar Schütten Kohle ins Feuer zu schippen. Bis es nach allen Regeln der Kunst sprudeln, sieden, kochen würde.
Wir haben es, wie gesagt, bei diesen Geschichten, nach allem, was bekannt ist, mit einem Mixtum Compositum aus historisch überlieferten und dazuerfundenen Episoden zu tun. Gleiches gilt hinsichtlich des Personals. Dies sei hier nicht nur angeführt, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sondern auch um vorauseilend schon mal eine eindringliche Warnung abzusetzen: Es könnte durchaus sein, dass die geneigte Leserschaft den Eindruck gewinnen möchte, sie werde hinters Licht geführt! Und das nicht ganz zu Unrecht. Wer nämlich dem weiteren Fortgang der Geschichte folgt, wird der Gefahr kaum entgehen, nicht mehr zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden zu können und sich im Reich wilder Spekulationen zu verlieren.
Schließlich war mein Großvater, als er mit dieser Story rausrückte, beileibe nicht mehr der Jüngste. Er hat sie zurückgehalten, bis ich genau das Alter erreicht hatte wie er damals: 25. 1967, die Studentenrevolte kam allmählich in Gang, was er mit Wohlwollen zur Kenntnis nahm, als Neunzigjähriger also nahm er mich zur Seite und erzählte mir brühwarm diese hanebüchene Geschichte, die sich in seinem fünfundzwanzigsten Jahr zutrug. Und die er in den sechseinhalb Jahrzehnten seither eifrig ausgeschmückt haben mochte.
Werfen wir, um das schillernde Verhältnis zwischen Facts und Fiction in den mitunter etwas grob gewirkten Vernetzungen seines Berichts zu verdeutlichen, einen abgeklärten Blick aus der zeitlichen Distanz auf die Rollen und ihre Darsteller: Großvater Fahrenhorst hat ganz fraglos den Reigen der real existierenden Protagonisten – nach dem Motto: üppige Szenerie belebt das Geschäft – angereichert um etliche seiner Fantasie entsprungene Figuren. Versteht sich von selbst, dass auch bei diesen – fast – frei erfundenen Akteuren Ähnlichkeiten mit damals lebenden Größen weder unbeabsichtigt noch vermeidbar sind. Andere Herrschaften dagegen sind tatsächlich ganz realiter in Erscheinung getreten. Sämtliche hier und später auftretenden Krupps zum Beispiel. Ebenfalls der Zeichner Allers, wie gesagt. Und, versteht sich, seine Majestät Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen, von dem an späterer Stelle noch die Rede sein wird.