in dem Moment, wo ich mit dem Kameraklotz die Klippen runter, da bin ich, als hätt’s nichts Wichtigers gegeben in dem Augenblick, wo’s abging nach unten, bin ich mit dem Blick hängen geblieben an dieser Inschrift vorm Höhleneingang: »Parva domus, magna quies« – Ich weiß nicht, kannst du Latein? – »Klein das Haus, groß die Ruhe.« Ich tat einen mörderischen Schrei und sah im Sturz noch, wie sich allmählich ein feistes Teutonengesicht über die Abrisskante schob und mit bestürzter Miene meinen Abgang verfolgte. Nützte mir zwar auch nichts mehr, aber immerhin. Wenigstens einer befand meinen Abschied von dieser Welt eines Blickes würdig.
Da wir die Überlieferung Großvater Fahrenhorsts, wie vereinbart, für bare Münze nehmen wollen, dürfen wir davon ausgehen, dass der Maler Allers die Klippen hinabsinnierend gemurmelt haben mag, wie schade es doch um die wunderbare Anmut dieses Künstlerkörpers sei, der sich da gerade anschicke, knapp vor Sonnenaufgang die Steilküste Capris im Sturzflug hinter sich zu lassen. Während asthma-attackiert Friedrich Alfred Krupp hinzugetreten sein mag, in einem fort seinen Schnauzbart zwirbelnd: Wo denn eigentlich der Knipser geblieben sei, ob der sich etwa aus dem Staub gemacht habe. Worauf Allers, ohne wirklich zu antworten, wohl wieder ins Schwärmen geriet und ihm der überquellende Geifer in die Mundwinkel trat. Was hätte er darum gegeben, dieses wunderbar weiche, vor Schreck geradezu ins Konturlose verschwimmende Gesicht zu zeichnen, die Ästhetik dieses Moments ungeschminkter Panik zwischen Bleistift und Papier zu nehmen, auf dass sie den Tod überdauere, den Tod!
Wiewohl der Besungene selbst auf seiner holprigen Reise abwärts von dieser speicheltriefenden Laudatio, versteht sich, kein Sterbenswörtchen mitbekommen haben kann. Ein Produkt nachgeschalteten Zusammenreimens also.
2
Das Laub im Park rund um die Villa Hügel hatte sich vom allmählich Einzug haltenden Herbst bereits beeindrucken lassen und trug seinen Teil zur Farbenpracht bei, bevor es in absehbarer Frist unterm rußgetränkten Ruhrdauerregen Kieswege und Rasen mit einem zähen, morbiden Matsch überziehen würde.
Zukunftsaussichten, die allerdings jenem in goldrotes Licht getauchten Oktoberabend des Jahres 1902, an dem mein Großvater seiner Arbeitgeberin erste Resultate vorweisen sollte, ebenso wenig anhaben konnten wie dem mondänen Auftreten Margarethe Krupps. Vornehm gekleidet wie immer und mit generalstabsmäßig zackigem, einer Dame von Chic und Elegance recht eigentlich wenig angemessenem Schritt.
Wenn du mich fragst, Krupps Grethe war wahrlich keine Schönheit. Wird sie wahrscheinlich nie gewesen sein. Bisschen vorquellende Augen, dann diese schwammige, nicht grade zierliche, nun ja, vielleicht nicht ganz Knollennase, aber sagen wir: Rundnase, die ihr Gesicht jedenfalls irgendwie zu weit vorpreschen lässt. Also alles, was recht ist, schön ist anders.
Die feinen, ganz feinen Fältchen der leicht, ganz leicht gekräuselten Haut zwischen ihrer Oberlippe und der Nasenwurzel zitterten wie die Falten vom Balg der Quetschkommode einer nervösen Bergmannskapelle, als sie mit spitzer Stimme fragte: »Haben Sie wenigstens die Fotoplatten retten können?«
»Einen besseren Anker als meine Kamera kann man sich kaum wünschen«, sagte ich, »hat sich mitten im Sturz mit ihrem staksigen Stativ irgendwie im Macchiagestrüpp verkeilt. Und ich hänge dran wie ein Klammeraffe. Und, ja, die Platte, die noch im Apparat steckte, grade frisch belichtet, hat den Sturz auch heil überstanden.«
Solltest du jetzt erwartet haben, dass Krupps Frau sich nach meinem Wohlbefinden in dieser ja nun wahrhaftig brenzligen Situation erkundigen würde, nach Verletzungen, Schrunden und Wunden – Fehlanzeige! Nicht der leiseste Hauch eines Mitgefühls. Immerhin war es bei dem von ihr selbst in Lohn und Brot gestellten Schnüffler in Capri um Leben und Tod gegangen, verdammt.
Indes ein Dragoner im eigentlichen Sinne war sie wohl nicht. Eher: durch und durch die pragmatische Geschäftsfrau. Solange sie ein klares Ziel vor Augen hatte, legte sie eine konsequente, starke, eine höchst sichere Persönlichkeit an den Tag. Und selbst wenn nicht alles zum Besten stand, so gelang es ihr doch irgendwie immer, aus dem verzwirbelten Knäuel noch der widrigsten Umstände ein Packende herauszuwinden. Ohne Frage jedenfalls war sie alles andere als eins jener einfältigen oder für einfältig gehaltenen Weibchen, mit denen sich ansonsten die Tycoons des Kaiserreiches umgaben, um sich nach Patriarchenmanier bräsig in der Sicherheit zu wiegen, dass einem die Gnädigste nicht in die Geschäfte guckte und spuckte und man sich unangefochten von weiblicher Gefühlsduselei auf dem Parkett der großen Politik tummeln konnte.
Zack – war die Krupp stehn geblieben, griff mir in den Arm und stieß hervor: »Und? Fahrenhorst, spannen Sie mich nicht auf die Folter! Was ist drauf zu sehn, auf Ihrer Platte?«
»Also, ich, ehm ...« – Ich weiß auch nicht, eigentlich war Stammeln nicht meine Art, aber hier, aber jetzt ...
»Wollen Sie mehr Geld?«
»Nein nein, gnädigste Frau Krupp, weit gefehlt«, brachte ich mit mehr schlecht als recht gespielter Bestimmtheit raus. »Es ist bloß – also, ich bin noch nicht in die Dunkelkammer gekommen, bin ja man grad erst aus Capri zurück.«
»Aber Sie werden sich doch daran erinnern, was Sie da auf Platte gebannt haben!«, hakte sie ohne Erbarmen nach, und die Oberlippenfältchen zitterten ihr einen aus dem Takt geratenen Preußen-Marsch ins Gesicht.
»Also, ehm, ich glaube, wenn ich mich recht entsinne, dürfte das Foto, also ehm, Ihren werten Herrn Gatten zeigen mit der Angelrute in der Hand beim Sonnenunter...«
»Sie brauchen mich nicht zu schonen, Fahrenhorst«, ging sie mit eilends wieder restaurierter Bestimmtheit dazwischen. »Ich bin im Bilde.«
»Wie bitte – wie meinen Sie das?« Es gelang mir nicht im mindesten, die Verwirrung zu verbergen, die dieser Satz in meinem geplagten Schädel anrichtete, der noch keinen Augenblick zur Ruhe gekommen war nach dieser Reise, die an – im wahren Sinne des Wortes – sich überschlagenden Ereignissen ja nun nicht arm gewesen war.
»Keine Angst« – also das musst du dir auf der Zunge zergehn lassen, wie die mich hier zerpflückte –, »ich nehme es Ihnen nicht übel, dass Sie immer den Kern der Wahrheit ausgespart haben.«
»Ich, ehm ... Ich hab noch ein zweites Foto geschossen von Ihrem Mann, als er grade in fröhlicher Gesellschaft war mit einer illustren Schar von Fischerburschen«, stammelte ich und hoffte, damit fürs erste aus der Bredouille zu kommen.
»Das stand nämlich alles in zwei Briefen an mich«, vernichtete sie meine Hoffnung im Handumdrehn, »die ganze unsittliche Betriebsamkeit meines Mannes auf Capri haarklein beschrieben! In zwei anonymen Briefen. – Fahrenhorst, haben Sie eine Ahnung, wer der Absender sein könnte?«
»Werd ich umgehend rausfinden«, war ich einigermaßen flott zur Stelle. Unter meinem Schädeldach aber schlugen die Gedanken Kapriolen. Wie in drei Teufels Namen war hier eine auch nur halbwegs schlüssige Logik in den Gang der Ereignisse zu bringen?! Mal zurück zu Gernot, ich meine, kannst du dir einen Reim auf dessen Naivität machen? Als systematisch denkendem Ingenieur hätte ihm doch nun wirklich von vornerein klar sein müssen, dass Fritze Krupp mit Kampagnen gegen den Paragraphen 175 nichts würde zu schaffen haben wollen, auf den Tod nicht. Hätt’ er sich ja offenbaren müssen. Und das bei seiner kruppstahlharten Gesetzestreue! Jede Wette, dass der sich sowieso mit Gewissensbissen der übelsten Sorte rumschlug. Da kam er doch überhaupt nicht drumrum, dem Gernot den Tritt der Tritte zu verpassen. Klar, dass der Herr leitende Ingenieur daraufhin am Boden zerstört war; schließlich war ihm da – schnack – die Beziehung zu einem stinkreichen Bewohner des Olymps weggebrochen. Und vielleicht, ich meine, wer will das wissen, wirst du auch nicht von der Hand weisen können, vielleicht hat er Krupp ja tatsächlich geliebt. Soll selbst unter Schwulen vorkommen. Jedenfalls weidwund wie er war, hat Gernot sich dann wahrscheinlich postwendend hingesetzt und die anonymen »Aufklärungsbriefe« an Krupps Frau geschickt. Rache pur. Oder, was meinst du – obwohl du kennst ihn schließlich auch nicht besser als ich, trotzdem: Meinst du, es ist sogar denkbar, dass er, wo er schon mal dabei ist, kurzerhand seine weltpolitischen Maximen über Bord kickt und die italienische Presse auf den Stand bringt über das, was der deutsche Eisenbaron auf Capri so treibt? Eher unwahrscheinlich, oder? Wie also kam dann die Meldung in dieses linke Käseblatt aus Neapel, wo die ganze Chose öffentlich