Isabel Morf

Satzfetzen


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am Küchentisch. Sie erzählten einander nicht viel. Angela hatte den Eindruck, dass Fritz ihre politische Arbeit nicht ganz ernst nahm. Und er war ihr in seiner beruflichen Entwicklung fremd geworden. Aus dem wissbegierigen, offenen Theologiestudenten war ein moralisch strenger evangelikaler Pfarrer geworden, der sich von der Landeskirche abgewandt hatte und in eine Freikirche übergetreten war, die eine schwärmerische und autoritätsgläubige Religiosität pflegte. Was war da bloß in ihm vorgegangen? Sie redeten nie darüber. Sie sprachen über Fahrradausrüstungen, über die Heizung ihres Häuschens in den Bergen, über Urlaubstermine. Manchmal fragte Angela sich, ob es anders gekommen wäre, wenn sie Kinder gehabt hätten. Ob er enttäuscht war, weil es nicht geklappt hatte? War sie enttäuscht? Es war müßig, darüber nachzudenken. Sie hatte jetzt andere Sorgen.

      Sie erhob sich und ging langsam hinunter. Fritz saß im Wohnzimmer.

      »Was ist denn mit dir passiert?«, fragte er, als er ihr Pflaster sah. Angela erzählte es ungern, es kam ihr vor wie das Eingeständnis einer Niederlage. Gleichzeitig ärgerte sie sich darüber, dass sie es so empfand.

      »Irgendein … ein Krimineller hat einen Stein nach mir geworfen, auf dem Flohmarkt«, rief sie. Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen. »Muss ich mich so behandeln lassen?«

      »Du musst Anzeige erstatten«, riet ihr Mann.

      »Habe ich natürlich gemacht.«

      »Hast du dir überlegt, dass das ein Zeichen sein könnte?«, fragte er.

      »Ein Zeichen?« Sie sah ihn verständnislos an.

      »Ich zweifle schon seit einiger Zeit daran, ob es das Richtige ist, was du machst, diese Politik«, sagte er. »Tut dir das wirklich gut? Ist es das, was Gott mit dir vorhat?«

      Angela starrte ihn an. Ihr Kopf begann plötzlich heftiger zu schmerzen.

      »Spinnst du?«, rief sie. »Das erste Mal in meinem Leben mache ich etwas wirklich Spannendes. Wie kannst du?«

      Er blieb ganz ruhig, beobachtete sie. »Ich habe den Eindruck, dass du überlastet bist, du hast keine Zeit mehr, du entziehst dich mir, du hast keinen festen Boden mehr unter den Füßen.«

      »So ein Unsinn! Mir gehts prima. Mein Problem ist, dass ich angegriffen worden bin, nichts anderes!« Sie schwieg. Es stimmte, dass sie sich ihrem Mann entzog. Aber hatte sie kein Recht auf ein eigenes Leben, das sie ausfüllte?

      »Gönnst du mir meine Karriere nicht?«, fragte sie misstrauisch. »Du wolltest schon immer im Mittelpunkt stehen, mich dominieren. Und jetzt nimmst du diesen Angriff zum Anlass, mich kleinzumachen, statt dass du zu mir hältst.« Ihre Schläfe pochte.

      Sein Blick war durchdringend. »Selbstverständlich halte ich zu dir. Du bist meine Frau. Aber ich glaube, dass du auf einem falschen Weg bist.«

      »Was sollte ich denn deiner Ansicht nach tun? Wieder als Sekretärin arbeiten? Musik auflegen auf deinen Jugendpartys? Oder Taschentücher verteilen, wenn die Jugendlichen ihre Bekehrungserlebnisse haben?« Sie brach ab. So verächtlich hatte sie sich noch nie über seine Arbeit geäußert.

      »Es wäre sicher nicht die schlechteste Aufgabe für eine Ehefrau, ihren Mann bei seiner Arbeit zu unterstützen«, gab er ungerührt zurück. Sie fühlte sich schwindlig und er schien es zu bemerken.

      »Komm, leg dich wieder hin«, sagte er sanfter, »ich mache dir einen Tee.«

      Angela legte sich aufs Sofa. Soll ich mich von ihm trennen, fragte sie sich. Nein, das würde sich nicht gut machen, eine geschiedene CVP-Politikerin. Die Situation ist so schon kompliziert genug. Fritz stellte ihr eine Tasse Tee und ein Tellerchen mit Zwieback hin. Einen Moment lang kam ihr die Szene ganz unwirklich vor und sie fragte sich, ob er fähig wäre, ihr Gift in den Tee zu schütten. Meine Nerven sind wirklich überreizt, dachte sie und nahm einen Schluck. Er schaltete den Fernseher ein.

      Montag

      Lina Kováts saß an ihrem Pult im Kantonsratssaal. Sie hatte die Tonaufnahme der Debatte in Gang gesetzt, die Liste der Ratsgeschäfte, die an diesem Tag behandelt wurden, lag vor ihr, vor einer Viertelstunde hatte die Ratssitzung begonnen. Das Thema, es ging um Steuersenkungen für Kleinbetriebe, interessierte sie nicht besonders. Sie gab sich keine Mühe, sich zu konzentrieren, ohnehin würde sie das alles in den folgenden Tagen nochmals hören, ab CD, wenn sie es schrieb und redigierte. Lina arbeitete seit einem Jahr nicht mehr als Zeitungskorrektorin, sondern als Protokollführerin im Kantonsrat. Nun musste sie nicht mehr dauernd bis spät abends arbeiten, sondern hatte Zeit, nach dem Job in ihrem Atelier zu malen. Sie ließ ihren Blick über die Reihen schweifen. Die meisten Plätze waren besetzt, was nicht hieß, dass alle Ratsmitglieder auch zuhörten. Einige lasen Zeitung, andere tippten etwas in ihre Laptops oder hackten eine Kurznachricht ins Handy, ordneten Unterlagen oder zwängten sich durch die engen Sitzreihen, um mit einem Kollegen flüsternd etwas zu besprechen. Anfangs hatte Lina diese Undiszipliniertheit verwundert, bis sie verstanden hatte, dass hier nicht die eigentliche politische Arbeit gemacht wurde. Die Knochenarbeit, die Erarbeitung von Gesetzen, wurde in den Kommissionen geleistet. Der Ratssaal, so sah es Lina, war die Bühne für die Öffentlichkeit, die montägliche Sitzung das Stück, das über die politische Arbeit Auskunft und den Darstellern die Gelegenheit gab, sich ins rechte Licht zu rücken. Man musste ja alle vier Jahre wiedergewählt werden. Der Saal gab eine würdige Bühne ab. Ein hoher Raum in einem schönen Renaissancebau, die Wände mit Porträts von ehemaligen Bürgermeistern von Zürich und einem hellblauen Wandteppich geschmückt, der das Kantonswappen, flankiert von zwei Löwen, zeigte. Durch die Fenster auf der einen Seite sah man die Limmat vorbeifließen.

      Lina wurde aufmerksam auf das Geschehen. Eine Sprecherin hatte geendet, die Ratspräsidentin erteilte einem anderen Kantonsrat das Wort, der zu reden begann, ohne sein Mikrofon einzuschalten.

      »Mikrofon!«, rief Lina. Typisch, dachte sie. Hefti. Ein junger Grüner, dessen Vater in Wiedikon eine Hausarztpraxis führte. Der war so eifrig darauf aus zu reden, dass er es jedes zweite Mal vergaß.

      »Ach ja, Tschuldigung«, lachte Hefti fröhlich zurück, drückte den Knopf und begann, sein Manuskript abzulesen. Immerhin. Er redete nicht frei wie andere, die dachten, das mache einen souveränen Eindruck, sondern kannte seine Grenzen und trat gut vorbereitet zu seinen Voten an. Seine Grenzen traten zutage, wenn er spontan auf einen Antrag reagierte oder eine Frage stellte. Dann verhedderte er sich heillos in einem Wust von Haupt- und Nebensätzen, Appositionen, Ellipsen, verunglückten Metaphern und verwechselten Fremdwörtern. Es war dann hinterher Linas Aufgabe, das in Ordnung zu bringen, dem Ganzen eine Syntax zu unterlegen, zu spüren, was Hefti inhaltlich hatte sagen wollen, und das, behutsam seinen eigenen Wörtern entlang balancierend, aber ohne in die von ihm aufgerissenen Gräben abzustürzen, zu formulieren. Hefti dankte es ihr. Wenn die redigierten Voten vor dem Ratssaal zur Einsicht auflagen, fischte er sich seine heraus, kam bei ihr vorbei und strahlte: »Super haben Sie das wieder geschrieben, Frau Kováts, super! Nicht wahr, Deutsch müsste man können«, und er zwinkerte ihr zu. Lina lächelte jeweils höflich und dachte: in der Tat. Aber im Grunde genommen mochte sie Hefti.

      Heute war die Stimmung im Ratssaal unruhiger als sonst. Vor Sitzungsbeginn hatte der Angriff auf Angela Legler Gesprächsstoff gegeben. Diese saß tapfer im Saal, an der linken Schläfe ein großes Pflaster, mit geradem Rücken, als ob sie ein Brett verschluckt hätte, und mit einem Blick, der sagte: Ich lasse mich nicht mundtot machen. Der Fraktionspräsident hatte eine Debatte zum Vorfall vom Samstag verlangt, was aber von der Ratspräsidentin abgelehnt worden war. Sie hatte ihm nur eine kurze Erklärung zugestanden, in der er die Attacke verurteilte, ohne genauer auf die Ursache und den Kontext einzugehen. Es war eine heikle Angelegenheit, denn die CVP stand mehrheitlich gar nicht hinter Leglers Vorstoß, den Flohmarkt zu schließen, und war nicht glücklich über das Sonderzüglein, das sie in dieser Sache fuhr.

      Die Debatte plätscherte weiter, noch immer ging es um die Steuersenkungen. Lina sah sich um. Wen sollte sie sich heute aussuchen? Vielleicht – ja, Ruth Noser. Die hatte ein interessantes Gesicht. Wenn Lina sich langweilte, fertigte sie manchmal kleine Bleistiftskizzen von den Kantonsräten an, keine Karikaturen, sondern Porträts, in denen sie versuchte, Stimmung und Ausdruck einzufangen. Obwohl