Thomas L. Viernau

Arkadiertod


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nun der Hörsturz.

      Wahrscheinlich hatte Freddi doch nicht übertrieben und die Probleme waren einfach zu groß geworden. Groß genug, um ihm mit dem Ereignis eine Grenze aufzuzeigen. Stopp! Bis hierher und nicht weiter!

      Am letzten Wochenende hatte Linthdorf Krespel besucht. Er traf einen zutiefst verstörten Menschen an. Eine Unterhaltung war fast nicht möglich. Freddi, der um Jahre gealtert schien, erklärte mit brüchiger Stimme, dass er ein fürchterliches Pfeifen im Ohr habe, das permanent unsäglich laut war.

      Die unangenehme Frequenz des Pfeiftons raube ihm den Schlaf und mache den normalen Alltag zur Hölle. Außengeräusche drangen als Klirren und Klackern auf ihn ein. Musik hören, eigentlich eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, mutiere zu einer mittleren Foltermethode und überhaupt … Das Leben mache ihm keinen Spaß mehr.

      Linthdorf war betroffen. So kannte er Krespel gar nicht. Innerhalb weniger Tage war aus dem freundlichen Hobbyfotografen ein missgelaunter Pessimist geworden. Krespel war auch ohne Hoffnung auf eine mittelfristige Besserung seines Zustandes.

      Er war bei diversen Ohrenspezialisten gewesen, die ihm die Ernsthaftigkeit seines Leidens klargemacht hatten. Nur noch mit einem Hörgerät, wenn überhaupt, würde er etwas von seiner Außenwelt akustisch wahrnehmen können. Seine teure HiFi-Musikanlage mit den über Jahrzehnte zusammen getragenen Musikschätzen war von Stund‘ an für ihn nichts mehr wert. Keine Rolling Stones-Konzerte mehr, kein Joe Cocker und keine Janis Joplin. Er war untröstlich über diese Aussichten.

      Linthdorf versuchte ihn aufzumuntern. Beethoven wäre ja wohl auch in seinen letzten Lebensjahren taub gewesen und hätte dennoch weiter komponiert, da die Musik tief in seinem Inneren noch vorhanden war. Doch Krespel sah ihn nur verstört an.

      Das Treffen am 23. Dezember fand an einem Zweiertisch statt. Voßwinkel erschien wie immer, etwas zerzaust und leicht verspätet, strahlte dennoch übers ganze Gesicht und überreichte Linthdorf ein aufwändig verpacktes Geschenk. Edles, mattgolden marmoriertes Reliefpapier, Naturbastschleife, dazu ein frischer Tannenzweig. So etwas konnte er wirklich gut.

      Auch Linthdorf hatte für Voßwinkel ein Geschenk vorbereitet. Allerdings ausgesprochen spartanisch verpackt. Eine Weinflasche, roter Minervois, in einer silbern glänzenden Geschenktüte, die an die klassischen Tetrapak-Formen erinnerte und ein Buch, verhüllt in Stanniolfolie.

      Das Verpacken von Dingen war Linthdorf stets ein Gräuel. Egal ob Geburtstag oder Weihnachten, er schob die Verpackerei meist so lange vor sich her, bis er in Zeitnot ein Provisorium zaubern musste. So auch diesmal. Eine Stunde vor dem abendlichen Treffen fiel es ihm noch ein, wenigstens etwas um die beiden Geschenke zu wickeln.

      Zumal er wusste, dass Voßwinkel stets mit seinen aufwändigen Umhüllungen auftrumpfte.

      Das Treffen im Kartoffelhaus »Zum Alten Fritz«, einem der wenigen noch verbliebenen Restaurants mit einheimischer Küche im neu erstandenen Zentrum Berlins, war etwas melancholisch. Zum einen fehlte Freddi Krespel in der Runde und zum anderen hatte Linthdorf sowieso ein permanentes Gefühl der Ohnmacht in sich, wenn er an seine nachmittäglichen Besuche in der Charité dachte.

      Die beiden Freunde begrüßten einander betont herzlich und tauschten ihre Geschenke aus. Auch Linthdorf erhielt eine Flasche Wein: deutschen Riesling von der Mosel. Das edel verpackte andere Geschenk traute er sich anfangs nicht zu öffnen. Zuviel Respekt vor der Verpackungskunst Voßwinkels. Doch dann riss er das feine Papier vorsichtig an der Kante auf, lugte hinein und förderte vorsichtig ein Buch zutage: ein Krimi, klar was sonst!

      Sowohl Voßwinkel als auch er selbst waren leidenschaftliche Leser. Sie tauschten oft ihre Krimis untereinander aus und diskutierten auch die einzelnen Fälle. Während Voßwinkel mehr dem Genre des Thrillers zuneigte, hatte sich bei ihm eine gewisse Affinität zu den skandinavischen Autoren eingestellt.

      Der Krimimarkt wurde in den letzten Jahren geradezu überschwemmt mit hochkarätiger Literatur aus dem Norden. Linthdorf musste sich anstrengen, um all die Neuerscheinungen zu lesen. Egal ob aus Schweden, Dänemark, Norwegen oder Island, die Krimis zogen ihn in ihren Bann. Er mochte den düsteren Grundton und die nüchterne Erzählweise der Autoren. Unter der biederen, gutbürgerlichen Oberfläche der Protagonisten öffneten sich menschliche Abgründe und archaische Strukturen kamen zum Vorschein, die in der modernen westlichen Welt eigentlich schon als überholt galten.

      Voßwinkels Vorliebe für Thriller, speziell amerikanische, konnte sich Linthdorf nicht so richtig erklären. Voßwinkel war als Kriminalist analytisches Denken gewohnt, ihn mussten diese kopflastigen, arg konstruierten Bücher doch eher abstoßen als faszinieren. Psychopathen, meist mit überirdischer Intelligenz und unglaubwürdig viel Geld ausgestattet, veranstalteten zweifelhafte Verfolgungsjagden, ließen ihre Gegenspieler eigenartige Rätsel lösen und entpuppten sich letztendlich als platte Idioten. Das Schema war stets dasselbe: Gut gegen Böse, Gut gewinnt, nachdem es zwischendurch so aussieht als ob die Bösen die Weltherrschaft übernähmen.

      Erleichtert konstatierte Linthdorf, dass in der schönen Verpackung ein klassischer britischer Krimi war. P.D. James – die Autorin mochte er auch.

      Eine pummelige Kellnerin, die übers ganze Gesicht strahlte, hatte inzwischen Ente mit Grünkohl und Klößen aufgetischt. Die beiden Männer waren beschäftigt mit dem Braten und schwiegen während des Essens. Erst als die Teller abgeräumt waren und ein Espresso den gemütlichen Teil des Abends ankündigte, nahmen sie ihr Gespräch wieder auf.

      Voßwinkel wusste Bescheid über Linthdorfs letzten Fall und das Drama um dessen Hoffnung Louise, die jetzt als Komapatientin in der Charité lag. Vorsichtig lotete er die gegenwärtige Seelenlage seines alten Freundes aus.

      Linthdorf hielt sich jedoch bedeckt. Er wollte niemandem mit seinen Problemen zur Last fallen, zumal eine Lösung von außen nicht wirklich möglich war.

      Es war ein permanentes Hoffen und Harren, das sein inneres Gleichgewicht vollkommen durcheinanderbrachte.

      Voßwinkel spürte, dass er im Moment nicht weiterkam. Sein Freund versuchte abzulenken und brachte die Sprache auf ein vollkommen anderes Thema.

      »Sag mal, gestern war doch ein Großeinsatz im Park Glienicke. Das volle Programm: Feuerwehr, Rettungswagen, Streifenpolizei … Was war denn da los? Weißt du etwas Genaueres?«

      »Woher weißt du denn von dem Glienicker Vorfall? Da ist doch totale Nachrichtensperre …«

      »Ich war dabei.«

      »Was?! Du warst dabei?«

      »Naja, nicht direkt. Ich stand am anderen Ufer, also auf der Potsdamer Seite, zwischen der Villa Schöningen und der Matrosenstation Kongsnaes … Enten füttern. Du weisst ja, ich brauche im Moment ein bisschen Normalität. Hab den Aufmarsch der gesamten Berliner Dienstwagenflotte beobachtet. Da drüben auf der Havelpromenade kein Straßenverkehr ist, habe ich mir so meine Gedanken gemacht. Zumal es noch recht früh am Tage war. Etwas Anderes musste also passiert sein. Heute habe ich weder in den Nachrichten drüber gehört noch in der Zeitung etwas gelesen. Also ist da doch etwas faul an der Sache.«

      »Kann man so sagen. Wir tappen noch im Dunkel. Anfangs dachten wir, es handele sich um einen Unfall, also eine normale Lebensmittelvergiftung. Aber inzwischen wissen wir, dass da jemand ziemlich professionell versucht hat, eine ganze illustre Gesellschaft auszulöschen.«

      Linthdorf horchte auf.

      Giftmord?

      Wer sollte denn im Schloss Glienicke ermordet werden? Dort wohnte schon lange niemand mehr.

      Voßwinkel fuhr fort. »Am 22. Dezember fand die Jahrestagung der Arkadischen Gesellschaft im Schloss Glienicke statt. Jedes Jahr ist das so. Das Ganze ist kein Geheimnis, interessiert ziemlich niemanden, der nicht in diese Gesellschaft involviert ist. Emeritierte Akademiker, pensionierte Beamte, die mit den Schlössern und Parks zu tun hatten, das sind die Mitglieder der Arkadischen Gesellschaft. Alles legal, ein e.V. eben, angetreten, das künstlerische Erbe der Hohenzollern zu bewahren und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Rat und Tat zu unterstützen. Leute, die früher schon für die Schlösser und Gärten tätig waren und jetzt im Ruhestand noch etwas für