Thomas L. Viernau

Krähwinkeltod


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Gott! Ob der Schrei zu dem Toten gehört hatte? Er war sich nicht sicher, hatte den Schrei schon wieder vollkommen aus seinem Gedächtnis gestrichen.

      Er berichtete dem Kommissar von dem nächtlichen Schrei, auch, dass er auf die Straße gelaufen war, aber nichts gesehen hatte.

      Wann das denn gewesen sei?

      So gegen Drei. Ja, er hatte sich gerade einen Kaffee eingegossen, denn immer so gegen Drei wurde er müde. Da sei er sich ganz sicher.

      Was das denn für ein Schrei gewesen sei?

      Naja, klang schon etwas gruselig, so langgezogen und überhaupt, er habe gedacht, es sei ein Tier im Todeskampf.

      Linthdorf notierte eifrig, was Golm erzählte.

      Ob er sonst noch etwas bemerkt habe?

      Golm ließ sich noch einmal die Ereignisse der letzten Sternenbeobachtung durch den Kopf gehen. Saturn, Uranus … Es war ein klarer Himmel in dieser Nacht. Seitdem verdeckten Wolken den Blick zu den Sternen. Der Schrei, der so unbarmherzig lange andauerte, die Straße, die still und friedlich… Halt! Der Schatten, da war ja auch noch der Schatten!

      Golm hielt ihn für eine streunende Katze oder einen Marder. Es könnte aber auch … Aber im Dunkel der Nacht waren Konturen nicht zu erkennen gewesen. Auf alle Fälle bewegte sich der Schatten zu dem unbewohnten Haus Nummer Sieben, dass nun schon seit ein paar Jahren verlassen war. Kein Mensch kümmere sich um die Sieben. Eigentlich schade, war immer ein schöner Hof.

      Linthdorf hatte inzwischen aus seiner Tasche ein Foto hervorgeholt. Ein blasses, schmales Gesicht war darauf zu sehen.

      Die Augen waren geschlossen, als ob er schliefe. Die Haare zurückgekämmt, die Ohren standen etwas ab, Segelohren wurden die wohl genannt. Eine gewisse Strenge strahlte das Gesicht aus. Ein Foto, ohne Emotionen, ohne Glanz und Glamour. Sachlich wie eine Illustration für ein Biologielehrbuch. Das Gesicht war vielleicht Mitte Zwanzig, eher jünger. Es gehörte dem Toten.

      Golm warf einen Blick darauf. Schwer erkennbar, wie der Junge mal lebendig ausgesehen haben könnte. Für einen Moment glaubte Golm ein paar bekannte Züge erkannt zu haben, aber das täuschte wohl. Nein, das Gesicht gehörte einem Unbekannten, da sei er sich sicher.

      Linthdorf registrierte den kurzen Moment in Golms Augen, in denen er sich an irgendjemanden zu erinnern schien. Immerhin, er hatte einen ersten Anhaltspunkt, wann das Verbrechen genau passiert war. Und er bekam eine Bestätigung dafür, dass Fundort und Tatort höchstwahrscheinlich übereinstimmten.

      Der Mord geschah also direkt vor dem schlafenden Dorf.

      Wollte das Opfer ins Dorf flüchten oder kam es aus dem Dorf? War er vielleicht in dem leeren Haus Nummer Sieben gewesen? Kannte er möglicherweise das Dorf oder ein paar seiner Einwohner? Oder war alles nur purer Zufall?

      Ein Auto, ja, ein Auto war Golm nicht aufgefallen, er habe auch keines wegfahren hören in der Sternennacht. Außer dem Schrei und dem Schatten wäre nichts weiter gewesen.

      Linthdorf bedankte sich bei Golm. Er lief weiter zum Nachbarhaus. Das trug allerdings nicht die Nummer Elf, wie es üblicherweise in den Ortschaften war, sondern die Vierzehn. Die Häuser waren hier entsprechend ihrer Entstehung nummeriert. Das Haus Nummer Vierzehn war das bislang letzte Haus, was im Dorf gebaut worden war. Aber das lag nun auch schon dreizehn Jahre zurück.

      Wieder klingelte Linthdorf, wieder wartete er unsäglich lange, bis endlich die Tür geöffnet wurde. Er bemerkte erst jetzt, dass Haus Nummer Vierzehn zwei Eingangstüren besaß. Da, wo er geklingelt hatte, blieb es ruhig, aber nebenan, die zweite Eingangstür bewegte sich.

      »Die jungen Leute sind auf Arbeit.«

      Ein älterer Mann mit Trainingshose und grauem Arbeitskittel kam auf Linthdorf zu.

      »Was wollen Sie denn?«

      Er hatte seinen Ausweis hervorgeholt und dem Mann vor die Nase gehalten. »Linthdorf, LKA Potsdam. Es geht um den Toten, der am Samstag unweit des Dorfes gefunden wurde.«

      »Und weshalb wollen Sie dann zu meinem Sohn und meiner Schwiegertochter? Glauben Sie, die haben damit etwas zu tun? Das ist doch Unsinn!«

      »Nein, nein! Wir befragen jeden. Ganz systematisch. Es geht uns darum, Hinweise über den Toten zu bekommen. Vielleicht kannte ihn ja jemand …«

      Mit einem undefinierbaren Brummen, was wohl Zustimmung andeuten sollte, lud der Mann in dem grauen Kittel Linthdorf ein, rüberzukommen.

      »Sie sind …?«

      »Erhard Kappenbach, Ingenieur, jetzt Rentner …«

      Linthdorf sah sich um. Er erkannte die kreative Hand eines technisch versierten Menschen. Überall waren kleine Bewegungsmelder angebracht, die wahrscheinlich die Außenbeleuchtung kontrollierten. Mit Kennerblick betrachtete Linthdorf den Wintergarten. Er mochte solche Anlagen.

      In der grauen Winterszeit saß er oft stundenlang in den Glashäusern des Botanischen Gartens, tankte Grün und schnupperte die feuchtwarme Luft der Pflanzen. Seine Favoriten waren die Gewächshäuser mit den wildwuchernden Tropenpflanzen aus den Regenwäldern. Rieselanlagen sorgten für ständige Feuchtigkeit und große Heizaggregate garantierten eine angenehme Temperatur.

      Kappenbach hatte seinen Wintergarten vor allem mit nützlichen Pflanzen bestückt. Tomatenstauden, Paprikabüsche, am Boden reiften Gurken und Zucchini, sogar eine Auberginenpflanze entdeckte er, deren Früchte bereits eine lila Färbung annahmen.

      Eine Seite jedoch war den Zierpflanzen vorbehalten. Eine Dieffenbachie, ein Ficus Benjamini, diverse Draconias, zwei Acapanthus-Stauden in Pflanzkübeln, ein Hibiskus-Bäumchen und ein großer Bottich mit Zyperngras grünten in trauter Eintracht mit den Gemüsepflanzen.

      »Wollen Sie mal probieren? Schmecken echt prima.«

      Ehe Linthdorf ablehnen konnte, hatte er zwei leuchtend rote Tomaten in die Hand gedrückt bekommen. Sie rochen wirklich sehr angenehm, genauso wie reife Tomaten duften sollten. Er kannte den Geruch aus seiner Kindheit, als im Garten seiner Großmutter Stabtomaten reiften, deren kleine gelbe Blüten ihn schon damals faszinierten. Wie aus den kleinen Blüten dann erst leuchtend grüne und schließlich sattrote Kugeln wurden, war für den damals zehnjährigen Gartenhelfer ein Wunder. Jetzt war plötzlich dieses wunderbare Gefühl aus seiner Kindheit wieder da. Linthdorf ertappte sich dabei, sentimental zu werden. Für einen Moment waren die Ermittlungen ausgeblendet und die zwei Männer standen sich gegenüber als fachkundige Tomatenliebhaber.

      Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Danke, ja, ich liebe frische Tomaten.«

      Erhard Kappenbach war zufrieden. Endlich mal jemand, der sein Gärtnertalent würdigte. Gisela maulte nur immer herum, egal was er ihr auch präsentierte, alles war nicht gut genug für sie. Tomaten mochte sie schon gar nicht, warum, wusste er nicht. Dabei war ein gut gewürzter Tomatensalat doch etwas Herrliches.

      »Gut, also, Tomaten, ja, die sind bei Ihnen wirklich in guten Händen. Nochmal vielen Dank. Aber sie ahnen, dass ich nicht wegen ihrer Gartenkünste gekommen bin. Es geht um den Toten.«

      Kappenbach seufzte. Ja, natürlich, seit der Tote am Sonnabend von dem Herumtreiber Flachbein gefunden worden war, gab es eigentlich nur ein Gesprächsthema.

      Gisela hing seitdem nur noch bei ihrer Schwester herum und hörte sich deren Schauermärchen an. Irene wollte den Todesschrei gehört haben und konnte seither nicht mehr richtig schlafen. Sie hatte panische Angst. Anfangs dachte sie, einer Illusion aufgesessen zu sein, doch der Leichenfund gab ihr recht. Sie hatte wirklich etwas gehört. Jedem erzählte sie nun ihre Geschichte, ob er sie hören wollte oder nicht.

      Kappenbach berichtete dem Kommissar von seiner Schwägerin und ihren Nachterlebnissen. Es war ja nicht das erste Mal, dass Irene seltsame Dinge berichtete. Angeblich schlich auch Hubi, ihr Verstorbener nachts durch das Haus. Aus purer Bosheit würde der Geist ihres Mannes das machen, um sie zu kontrollieren. Kappenbach erwähnte das, um dem Polizisten eine Idee von dem Wahrheitsgehalt in Irenes Äußerungen zu geben.

      Er