Häusern blieb es dunkel. Niemand hatte etwas gehört.
Aufgeschreckt von dem Schrei flatterten ein paar Krähen verstört davon. Sie hatten wohl ihr Nachtlager direkt in dem kleinen Apfelbaum am Straßenrand. Niemand kümmerte sich um ihr ärgerliches Gekrächze.
Das Dorf
Weit draußen in der Ostprignitz spärlich besiedeltes Land,
Dörfchen, verstreut wie Inseln im endlosen Feldermeer,
fast vergess‘ne Leuchtfeuer der Zivilisation,
einsame Höfe recken sich empor.
Sind sie noch bewohnt? Und wenn ja, von wem?
Wer hält es hier draußen aus?
Bei einem Pott Kaffee und einem Stück Streuselkuchen sitzend,
beobachte ich Hühner und Enten beim Suchen nach Futter,
mümmelnde Karnickel zupfen Kräuter im Garten,
ein Radio leise dudelt, Zeit vergeht wie im Fluge,
lässt keine Gedanken an Einsamkeit aufkommen.
I
Das Dorf, Haus Nr. 12
Mittwochnacht, 26. September 2007
Der Übergang zwischen dem Ruppiner Land und der Prignitz wird als Ostprignitz bezeichnet. Nicht ganz so dünn besiedelt wie der westliche Teil der Prignitz, aber immer noch an die Grafschaft Ruppin erinnernd. Die Dörfer sind gepflegt und die Entfernungen zwischen ihnen erträglich. Hier tobte im Dreißigjährigen Krieg eine der größten Schlachten. Danach war die Gegend entvölkert.
Ein Hauch von Prignitz zieht seitdem durchs Land. Alles ist flach und starker Wind pfeift ausreichend. Windräder ragen in jeder Richtung in den Himmel. Die Ostprignitz gibt sich unspektakulär und bescheiden.
Die Septembernacht war schon kalt. Der Herbst kündigte sich mit kühlen, klaren Nächten an. Ideale Nächte zum Sternegucken.
So nannte er seine heimliche Leidenschaft, die ihn, den Schlaflosen, nächtelang auf dem ausgebauten Dachboden in den Himmel starren ließ. Er hatte zwei Fernrohre aufgebaut, beides teure Präzisionsgeräte, die es ihm ermöglichten, weit in die Tiefe des Weltalls zu blicken, Planeten zu beobachten, Mondlandschaften zu studieren und den Lauf der Sterne zu bewundern.
Die ganze Woche war es schon so kalt und klar des Nachts. Vor sich hatte er diverse Astrokalender aufgeschlagen, in denen die Positionen der Planeten genau beschrieben waren.
Er suchte den Saturn, der sollte gerade jetzt im späten September gut zu beobachten sein. Ein paar Mal hatte er ihn schon ins Visier genommen. Das Fernrohr gestattete ihm eine Auflösung, die sogar das Ringsystem um den Planeten sichtbar machte.
Ein gelblich schimmerndes Scheibchen mit einem hellen Kreis, der sich schräg darumlegte. Schon seltsam, was sich die Natur für Objekte einfallen ließ.
Aus der Nähe könnte man sehen, dass es keine Ringe waren, sondern kleine Eispartikel, die von der Gravitation des Gasriesen auf diese sonderbare, ringförmige Bahn gezwungen wurden. Astronomen nahmen an, dass es wohl ein ehemaliger Mond gewesen war, der dem Planeten zu nahekam und von dessen Gravitation zerrissen wurde. Saturns Monde waren größtenteils Eiswelten. Gefrorenes Methan. Bizarre Welten mit Eisvulkanen und Nebelwolken aus Ammoniak. Überhaupt, da draußen in den Weiten des Weltalls schien alles nur noch aus gefrorenen Gasen zu bestehen. Ungemütliche Orte.
Fröstelnd zog er sich für einen Moment von seinem Beobachterposten zurück. Er schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach drei Uhr nachts. Aus seiner Thermoskanne goss er sich einen Kaffee in seinen Becher. Die Müdigkeit kam um diese Uhrzeit mit aller Macht und setzte ihm zu. Ab um Vier ging es dann wieder. Aber genau diese Stunde zwischen Drei und Vier war immer sein Totpunkt. Nur viel starker und heißer Kaffee half darüber hinweg. Stille herrschte. Kein Geräusch drang durch die sternenklare Nacht. Der Sternengucker schlürfte seinen Kaffee und vertiefte sich wieder in die vor ihm ausgebreiteten Astrokalender.
Man könnte ja auch noch einmal auf die Suche nach dem mit dem bloßen Auge kaum sichtbaren Uranus gehen. Selbst durch sein starkes Präzisionsteleskop war dieser türkisfarbene Eisriese nur als schwacher Lichtpunkt zu sehen.
Gerade wollte er sein Fernrohr auf die Koordinaten des weit entfernten Planeten ausrichten als er zusammenzuckte. Ein Schrei durchbrach die nächtliche Stille. Markerschütternd und nicht enden wollend. Er bekam unwillkürlich eine Gänsehaut, konnte zudem nicht einmal orten, von wo der Schrei kam. Er war so unmittelbar und plötzlich gekommen, als ob er über ihm ausgestoßen worden wäre. Aber da war natürlich nichts außer dem sternenübersäten Himmel.
Von da oben konnte er nicht gekommen sein, ja, er konnte nicht einmal feststellen, ob der Schrei aus einer männlichen oder weiblichen Kehle gekommen war. Vielleicht war es ja auch kein menschlicher Schrei.
Einige Tiere im Todeskampf sollten auch solche Schreie von sich geben. Möglicherweise hatte ein Fuchs einen Hasen … oder ein Uhu eine Maus… Kopfschüttelnd verwarf er jedoch die Idee, nein, die Intensität und die Länge des Schreis wiesen eindeutig auf eine menschliche Quelle hin.
Doch wer sollte nachts um Drei so markerschütternd schreien? Hier im Dorf schlief um diese Uhrzeit jeder. Nirgends war ein Licht zu sehen. Ob noch jemand anders den Schrei gehört hatte? Er beobachtete die Häuser, möglicherweise waren durch den Schrei ja ein paar leichte Schläfer geweckt worden.
Doch nichts passierte. Das Dorf lag still und dunkel vor ihm. Aber er hatte sich den Schrei doch nicht eingebildet! Er hatte ihn gehört, klar und deutlich. Was war da los?
Er klappte seine Astrokalender zu, trank noch einen Schluck heißen Kaffee und stieg vorsichtig die Treppe hinab. Irgendwo musste doch die Ursache des Schreis zu finden sein.
Möglicherweise brauchte jemand Hilfe. Er lief mit seiner Taschenlampe die Straße entlang. Nichts war zu sehen. Auch die andere Straße des kleinen Dorfs war still und dunkel. Hatten ihm seine Sinne nicht doch etwa einen Streich gespielt?
Ein Schatten huschte über die Straße ins unbewohnte Haus Nummer Sieben. Eine Katze? Ein Marder? So richtig konnte er es nicht erkennen. Vielleicht narrte ihn auch nur seine Einbildung.
Schwarze Schatten flogen plötzlich durch die Nacht, begleitet von einem ärgerlichen Krächzen. Golm zuckte zusammen. Seit wann waren den Raben nachtaktiv?
Verunsichert ging er wieder zurück ins Haus. Sternegucken war für heute Nacht erst einmal passé.
II
Das Dorf, Haus Nr. 14
Freitag, 28. September 2007
Das Dorf lag verlassen und vergessen inmitten der eintönigen Felder. Es gab nur zwei Straßen. Insgesamt waren es vierzehn Häuser, die sich entlang der beiden Straßen versammelt hatten. Die meisten waren alte Feldsteinhäuser mit dazugehörigem Hof und Stallungen nebst Scheunen. Einige Häuser, vielleicht eine Handvoll, schienen neueren Ursprungs zu sein. Sie besaßen meist nur einen Vorgarten und ein Carport.
Kein Kirchturm kündete vom Vorhandensein des Ortes, kein Schloss oder Gutshaus machte es für Wanderer zu einem beliebten Reiseziel. Es gab nichts wirklich Besonderes. Nur die beiden Straßen und ihre vierzehn Häuser.
Der Freitagabend war die Zeit, in der die Pendler von ihren Arbeitsstellen in den benachbarten Städten heimkehrten. Vor den Häusern parkten Autos, meist praktische Kombis, in denen man auch seine Einkäufe transportieren konnte.
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