Sir Thomas Moore

Morgen wird ein guter Tag


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Anlässen und nur an Samstagen setzte Mutter sich ihren besten Hut auf und nahm uns mit zu Lingard’s an der Ecke Kirkgate und Westgate in Bradford, dem größten Geschäft, das ich damals gesehen hatte. Das wohl Faszinierendste daran war ein an der Decke installiertes Geldbeförderungssystem, bei dem der oberste Kassierer der Einzelkassen – der in einer zentralen Kabine saß – Geld in einen Blechkanister legte und an einer Kordel zog. Dann schoss der Kanister zur Decke, wo er mit einer Reihe von Wägelchen weiterbefördert wurde. Er wurde von einem Angestellten „ganz oben“ – sprichwörtlich, aber auch physisch gesehen – angenommen, der das Geld zählte und das angeforderte Kleingeld zurückschickte. Andere Geschäfte verfügten über ein ähnlich funktionierendes Vakuum-System, doch mich begeisterte schon immer alles Mechanische, und ich hätte den ganzen Tag mit der kleinen Geld-Eisenbahn spielen können.

      Seit ich acht Jahre alt war, hatte ich fast immer einen Hund als Spielkameraden. Der erste hieß Pat und war ein junger Golden Cocker, den niemand haben wollte, da er eine verkrüppelte Pfote hatte und dadurch humpelte. Vaters Bruder, mein Onkel Billy, hörte von diesem kleinen, kümmerlichen Racker und brachte ihn mir als Geschenk mit. Billy meinte: „Jeder Junge sollte einen Hund haben.“ Pat war zu der Zeit noch sehr klein und schmächtig und so konnte ich nicht viel mit ihm unternehmen. Freda nahm ihn eines Tages mit nach draußen und er flitzte unten an der Barr Lane vor einen Laster und wurde totgefahren. Sie war noch aufgeregter und trauriger als ich und gab sich die Schuld dafür, „unseren Toms Hund“ getötet zu haben.

      Als Onkel Billy hörte, was geschehen war, brachte er mir einen älteren Cocker vom selben Züchter, ein weiteres Tier, das niemand haben wollte. Ich taufte ihn Billy und er war ein toller Hund, der in der Küche schlief und mit mir stundenlang durch die Moore strolchte, bei Regen und bei Sonne. Nachdem ich meine Schüssel Haferflocken gegessen hatte, verschwand ich mit ihm und kam erst wieder zum Tee zurück. Damals sorgte sich noch niemand um Kinder. Bei einem normalen Streifzug sah ich bis auf wenige Unermüdliche keinen einzigen Menschen, und so liefen und schlenderten Billy und ich allein durch die Gegend, wobei wir jeden Wildbach oder Spalt in den Steinen erkundeten, in jede Scheune hineinblinzelten und durch jedes verfallene Farmhaus stöberten. Er saß geduldig neben mir, wenn ich Stichlinge oder Kaulquappen in einem Marmeladenglas fing, um dessen Hals ich eine kleine Schnur befestigt hatte. Ich kann nicht behaupten, dass sich Mutter über unsere Mitbringsel freute, doch sie fand sich damit ab.

      Die hügelige, sich weit dahinziehende Landschaft hatte Romane wie Sturmhöhen und Die Herrin von Wildfell Hall inspiriert und war für einen kleinen Jungen und seinen Hund ein aufregender Zeitvertreib, nicht zuletzt, weil sie sich während der Jahreszeiten ständig veränderte. Im Winter lag immer hoher Schnee, und auf den Flüssen Tarn oder Aire bildete sich eine dicke Eisschicht. Dann schnallte ich mir die Schlittschuhe aus Holz an die Füße und machte mich mit Freda und einem Dutzend anderer Kinder auf, eine Runde auf dem Eis zu drehen (wobei ich meist stolperte und mich langlegte). Der Frühling in den Dales schenkte uns Schlüsselblumen, blaue Wiesenglockenblumen, Sumpfdotterblumen, Butterblumen und Osterglocken. Ich pflückte immer emsig die blauen Wiesenglockenblumen, um sie Mum mitzubringen. Freda und ich gingen oft mit ihr los, um Körbe von Osterglocken zu pflücken, die wir in die Vasen des Hauses stellten, wo sie ihren einzigartigen Duft verbreiteten. Im Sommer sah man überall Heidekraut leuchten und Stechginster. Auf dem Fluss fuhren Ruderboote, und wir schwammen meist in einem Kanal. Im Herbst lag ein dicker Teppich aus gefallenen Blättern auf dem Boden, Adlerfarn und Flechten wuchsen, bevor wieder der Winter begann mit seinen Wirbelstürmen und dichten Nebeln, durch die Hunderte Menschen an Bronchitis verstarben.

      Ich kannte mich in der Gegend sehr gut aus, verlief mich nie oder hatte nie Ärger. Seit der Kindheit lernte ich, wie man eine Landschaft liest und deutet, das Wetter einschätzt oder sich Erkennungszeichen einprägt. Als Junge vom Land musste ich nur ein einziges Mal eine Landschaft durchkreuzen und konnte sie mir für alle Zeiten merken. Die erlernte Geschicklichkeit zahlte sich mein ganzes Leben lang aus und war so natürlich für mich, dass ich andere nie verstand, die nicht über diese Fähigkeit verfügten. In der Nacht fand ich den Norden mithilfe des Polarsterns und am Tag sah ich nach, auf welcher Seite der Bäume das Moos wuchs, wissend, dass sie in südlicher Richtung glatt waren. Ich roch Regen und Schnee in der Luft und spürte am Wechsel des Windes, ob der Niederschlag in meine Richtung zog. Oftmals trug ich ein Fernglas bei mir und hielt Ausschau nach Brachvögeln und anderen Wildtieren. Sogar im schneidenden Wind und strömenden Regen zog Billy mit mir weiter durch die Gegend, und ich holte mir niemals eine Erkältung. Schlechtes Wetter schreckte mich nicht ab. Auch Billy schien die Witterung egal zu sein, denn er war zufrieden und freute sich über meine Gesellschaft.

      Er hatte jedoch eine Marotte: Er knurrte jeden an – sogar mich –, nachdem man ihn seinen Napf mit dem Fressen hingestellt hatte. Niemand konnte ihm das austreiben und er fletschte schon die Zähne, wenn jemand auch nur in seine Nähe kam. Abgesehen von der Macke war er mein bester Freund. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich bis auf ihn und meine Familie einen anderen Menschen bräuchte. Mutter fand wohl, dass ich zu eigenbrötlerisch war, und so bestand sie darauf, dass ich dem Chor der St. Peter’s Church in der Halifax Road beitrat, deren Leiter Freda das Klavierspiel beibrachte. Für meine Eltern, die der Church of England angehörten, war die Kirche der Bezugspunkt, wohingegen Oma Fanny die Andacht in der Methodist Chapel in der Alice Street feierte. Um allen gerecht zu werden, ging ich in beide Kirchen und freute mich, beide Welten kennenzulernen. Der Chorleiter von St. Peter’s teilte mir mit, dass ich für ihn bis zum Stimmbruch singen durfte, was ich schließlich auch machte. Ich war vermutlich gar nicht so schlecht, denn ich skandierte sogar einige Solopassagen, und er schrieb mich bei einem Gesangswettbewerb ein, bei dem ich aber nicht zum Zuge kam.

      Meine Schwester Freda und ich kamen die meiste Zeit über gut miteinander aus, doch sie hatte ihre Freundinnen und Puppen zum Spielen, und ich war wahrscheinlich der nervtötende jüngere Bruder, der im Weg stand. Wir harmonierten besser, wenn es nach draußen ging oder Ferien waren, spielten mit Tieren am Fluss, wobei niemals ein böses Wort fiel. Es existiert ein hübsches Foto von uns – Vater nahm es auf –, auf dem wir im Sommer 1926 in Coxwold nahe Thirsk eine angebundene Ziege füttern. Sein geliebter Rover steht dabei im Hintergrund. Ich trage einen Strohhut und Freda ihren Schulhut sowie die helle Sommeruniform, auf der ihre Initialen aufgestickt sind. Hier zeigten wir uns von unserer besten Seite. Wenn wir im Haus bleiben mussten, war das manchmal anders. Sie zog mich auf und trieb mich dabei bis zur Weißglut, oder ich musste langweilige Hausarbeit erledigen, schwere Sachen für sie oder Mutter tragen, Erbsen enthülsen, den Kamin reinigen, die Kohlen hochholen oder Feuer machen – alles Tätigkeiten, vor denen ich mich gerne drückte. Der einzige offene Kamin des Hauses befand sich im Wohnzimmer, das nur bei Besuch benutzt wurde. In diesem Raum standen die besten Möbel mit weißen Schutzdecken, die man über die Rückenlehne der Stühle gelegt hatte, um das Polster vor dem Makassar-Öl zu schützen, das Männer allgemein als Pomade benutzten. Heute weiß niemand mehr, was das war, da es von Brylcreem abgelöst wurde. Zu Weihnachten schmückten wir das Wohnzimmer mit einem kleinen Baum und Papiergirlanden. Vater spielte dann Klavier, während alle um ihn herumstanden und sangen. Obwohl er die Musik nicht hören konnte, spürte er die Schwingungen. Mich erstaunte es immer wieder, was für ein guter „Klimperer“ er doch war. Er las die Noten, wie man es ihm als Kind beigebracht hatte, und spielte dann sein Lieblingsstück „In The Garden With Angeline“. Erst wenn die Musik verstummte, wurde es für ihn schwieriger, denn die Teilnahme an normalen Gesprächen war ihm ja nicht möglich. Einer von uns musste sich zum Übersetzen immer an seine Seite hocken. Oftmals war ich es, denn Mum übernahm die Rolle der Gastgeberin und Freda hatte viel damit zu tun, die Lady zu spielen oder mich mit etwas zu ärgern.

      Wann immer ich mich bei Mutter über Freda beschwerte, gab sie dieselbe Antwort: „Ist doch egal. Deine Zeit wird kommen.“ Dabei drückte sie eins kristallklar aus: Niemand würde mir zu Hilfe eilen! Sie und Freda pflegten eine enge Beziehung in der Art, wie es bei Müttern und Töchtern häufig der Fall war, da sie die Hausarbeit immer gemeinsam erledigten. Ich stand meiner Mutter aber auch sehr nahe, da sie eine gütige und liebenswerte Lady war und jemand, mit dem ich mich gut unterhalten konnte. Die Beziehung zu meinem Vater war hingegen anders. Ich liebte ihn innig, denn er war ein großartiger Kerl und mir immer ein guter Freund, aber wegen seiner Taubheit konnte ich nie mit ihm Gespräche führen wie die meisten Jungs mit ihren Vätern. Oft sah ich die anderen Kinder, die einfach