Die Götter hatten die Drachen einst in die Gebiete jenseits der Mauer verbannt, nachdem sie sie in einer gewaltigen Schlacht besiegt hatten. So stand es in den Schriften der Menschen. So lernten sie es in den Schulen und Tempeln und es zweifelte niemand daran, dass es der Wahrheit entsprach.
Arrazan war der Sohn der Götter.
Sie hatten ihn auf diese Welt geschickt - mit einem besonderen Auftrag.
Die Bezeichnung Sohn der Götter konnte man in seinem Fall tatsächlich wörtlich und nicht nur als metaphorische Verallgemeinerung betrachten. Es hieß, dass die Götter von Chaos, Ordnung, Licht und Dunkelheit - Blaakon, Ahyr, Taykor und Arodnap - nacheinander derselben namenlosen Hure beigewohnt hatten, sodass niemand wissen konnte, wessen Götterblut nun tatsächlich in Arrazans Adern floss. Er war ihrer aller Sohn und ein mächtiger Zauber sollte dafür sorgen, dass die Eigenschaften aller vier Götter sich in ihm vereinigten.
Nun war er er hier.
Er erschien einfach.
Plötzlich war er in dieser Welt, die nur eine in der unendlichen Vielfalt des Multiversums war, materialisiert.
Er stand an den Zinnen jenes mächtigen Bauwerks, dass die Menschen dieser Welt die >Mauer der Götter< nannten. Das Bauwerk meiner Väter, dachte Arrazan mit einem milden Lächeln. Arrazan hatte die Gestalt eines jungen Mannes angenommen. Er trug einen Harnisch, über dem Rücken ein Schwert und an der Seite einen Dolch mit einem funkelnden Arrhayd-Kristall am Griff. Der Kristall funkelte etwas zu stark und magisch. Das Gleiche galt für den Harnisch, der von einem Schimmer umgeben wurde.
Und für seine Augen, die grün wie das Meer waren und ebenfalls magisch leuchteten.
Besser, ich falle hier nicht so auf, dachte er.
Einerseits beteten die Menschen zu den Göttern.
Andererseits verfluchten sie sie aber auch.
Ob man sich als Sohn der Götter zu erkennen gab, war also immer eine Frage situationsbedingter Abwägung. Arrazan hatte von einem Gottessohn in einer anderen Welt des Multiversums gehört, der von Menschen hingerichtet worden war. Dass man ihn nachher um so mehr verehrt hatte und er durch sein Opfer einen neuen Glauben begründete, stand auf einem anderen Blatt. Aber Arrazan stand keineswegs der Sinn danach, dass ihm etwas Ähnliches widerfuhr...
Arrazan strich über den Harnisch und berührte dann den Griff des Dolchs an seinem Gürtel. Das magische Schimmern verblasste - sowohl beim Harnisch, als auch das Leuchten, das aus dem Inneren des Juwels kam.
Nur nicht auffallen, dachte Arrazan.
"Hey, du!" rief eine raue Stimme.
Arrazan drehte sich um.
Ein Mann stand vor ihm.
In Harnisch und Helm gekleidet und gut bewaffnet. Ein Schwert an der Seite, eine Armbrust über der Schulter. Auf dem Harnisch prangte das Emblem der Drachenwächter.
"Was machst du hier?"
"Ich schaue hinaus ins Große Land", sagte Arrazan. "Ich schaue nach Drachen - genau wie du und jeder andere, der auf den Wehrgängen dieser Mauer seine Dienst tut."
"Ich kenne dich nicht."
"Du kennst alle Drachenwächter?"Arrazan lachte. "Sie sind so zahlreich... niemand kann sie alle kennen."
"Die aus meiner Einheit schon!"
"Ja, das mag sein."
"Also, sag mir, wer du bist! Sonst..."
Arrazan hob die Hand. In seinen Augen erschien für kurze Zeit ein grünes Leuchten. Es füllte die Augen des Göttersohnes vollkommen aus.
"Du hast nichts gesehen", sagte Arrazan. "Du hast mich nicht bemerkt... Und du hast nie daran gezweifelt, dass ich genau das bin, was du auch bist. Einer von unendlichen vielen, die nach den Drachen Ausschau halten, die in den Weiten des Großen Landes hausen und uns ihren Giftatem herüberhauchen und damit Tod und Verderben über die Reiche der Menschen bringen... Vergiss mich, Drachenwächter!"
"Ich vergesse dich", bestätigte der Drachenwächter, der auf einmal wie in Trance wirkte.
>Vergiss mich!<, sandte Arrazan daraufhin noch einen intensiven Gedankenbefehl hinterher.
"Ich habe dich nie gesehen!", sagte der Drachenwächter.
Unterdessen ging Arrazan an ihm vorbei.
Der Drachenwächter drehte sich nicht zu ihm um, sondern setzte seine Patrouille entlang der Zinnen jenes Befestigungswerkes, dass man die Mauer der Götter nannte, einfach fort.
Arrazan blieb stehen. Das göttliche Leuchten war aus seinen Augen verschwunden. Für einen Moment schimmerte sein Harnisch etwas - und der Arrayhd-Kristall an seinem Dolchgriff blitzte sogar kurz. Meine Göttlichkeit zu verbergen, ist schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte!, ging es Arrazan durch den Kopf.
Dann wandte er den Kopf in Richtung der unendlichen Ödnis, die jenseits der Göttermauer lag.
Schwefelgeruch drang von dort in seine Richtung.
Dort draußen lauerten die großen Gefahren.
Und derentwegen war er hier.
Er musste den Auftrag seiner Väter erfüllen.
Aber zunächst bedeutete dies, dass er die Situation erkunden musste.
*
An diesem Morgen erwachte Hiro Himmelsberg um einiges früher als üblich.
Er erwachte und sofort erfüllte ihn die Erwartung auf den kommenden Tag mit freudiger Nervosität.
Draußen war es noch dunkel.
Die Nacht hatte noch einige Schleier zu werfen, doch bald schon würde die Morgenröte das Zepter übernehmen.
Er wusste, er sollte weiterschlafen, aber vor lauter Aufregung fand er keinen Schlaf mehr, denn heute war der Tag, der sein künftiges Leben vorherbestimmen sollte. Das fühlte er mit jeder Faser seines Körpers.
Heute war der erste Tag des ersten Monats im Frühling, der Tag, der ein neues Jahr einläutete.
Es war endlich der Tag, an dem ihn sein Vater das erste Mal auf die Mauer mitnehmen würde.
Hiro blickte aus dem Fenster in die Nacht hinaus, aber draußen herrschte noch absolute Dunkelheit, so dass er nichts sehen konnte.
Kein Licht erleuchtete das Draußen, so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich wieder in seine Decke zu wickeln und zu hoffen, dass ihn der Schlaf erneut übermannte. Er zog die Beine an, bis er in seiner bequemsten Schlafstellung dalag, und schloss die Augen.
Der Schlaf wollte jedoch nicht kommen.
So blinzelte er immer wieder in die Dunkelheit, ließ in seinen Gedanken die kuriosesten Vorstellungen vor seinen inneren Augen vorbeiziehen. Aber anstatt Ruhe zu finden, wurde er immer aufgeregter.
Was würde der Tag bringen? Sah er womöglich einen Drachen?
Er konnte es kaum erwarten, bis Leben das Haus erfüllte.
Mit dem ersten schwachen Lichtschimmer kehrte das Leben in das Haus ein. Seine Mutter war es, die üblicherweise als erste das Bett verließ und in der Küche zuerst das Feuer im Herd schürte.
Diesmal blieb sie nicht lange allein, denn Hiro kam in die noch kühle Küche, bevor das Feuer im Herd so richtig prasselte.
"Was treibt dich so früh aus dem Bett?"
Ihre Stimme klang noch ein wenig verschlafen. Man hörte ihr an, dass sie gerne noch länger liegen geblieben wäre. Sie gab sich die Antwort jedoch gleich selbst.
"Es ist noch zu früh für die Mauer, Hiro."
"Aber