Alfred Bekker

Die Mauer der Götter 1: Drachenzeichen


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Stelle hatten einst die Götter ausgesucht, denn das Land dahinter sollte frei von Drachen bleiben! Die ewige Stadt Embadan, am Südufer gelegen, wurde das kulturelle und bald auch das politische Zentrum.

      Die Strecke, die sie von dem Turm trennte, hatte Hiro vor Freude fast im Laufschritt zurückgelegt. Zu seiner Überraschung war der Eingang in den Turm unversperrt. Es gab sogar nur eine Schwingtüre, jede Hälfte etwa eine Armlänge breit, ansonsten keine Sicherung. Am liebsten wäre er gleich weitergestürmt, aber er zwang sich dazu, in Ruhe auf seinen Vater zu warten. Als sein Vater herankam, sah er an seinem zufrieden lächelnden Gesicht den Stolz, der Coling erfüllte.

      "Warte oben auf mich", sagte Coling, der den Drang seines Jungen, möglichst rasch auf die Spitze des Turmes zu steigen, nicht übersah. "Du darfst den Mauergang betreten, aber auch wenn bereits jemand oben ist, entferne dich nicht allzu weit."

      "Darf ich hinunterschauen?"

      "Da oben gibt es nicht mehr viel zum Herunterschauen", sagte Coling nur. "Aber natürlich, deswegen sind wir ja hier."

      Das ließ sich Hiro natürlich nicht zweimal sagen. Mit beiden Händen stieß er die Schwingtür auf und trat ein. Die Treppe nahm den gesamten Platz in dem Turm ein. An der Wand entlang führte sie jeweils neun Stufen empor, ehe sie im rechten Winkel wieder für neun Stufen abbog. So ging es weiter. Bei seiner Erstbesteigung zählte Hiro 432 Stufen.

      Hiro atmete zwar heftig, als er oben ankam, aber die Anstrengung hatte seine Kräfte kaum gemindert.

      Die oberste Plattform des Turmes war ebenfalls nur durch eine Schwingtür gesichert. Diese war jedoch nur halb so hoch, so dass er über die Tür hinweg hinausblicken konnte.

      Er war allein hier oben. Die Morgensonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel, aber ein kühler Wind pfiff ihm entgegen.

      Hiro trat aus dem Turm auf den breiten Weg, der auf der Mauer entlanglief. Die Fußbodensteine waren abgetreten und manche von ihnen richtig glatt geschliffen. Viele tausend Füße waren über sie bereits hinweggeschritten. Ehrfurchtsvoll setzte er Schritt vor Schritt. Die Mauer war mindestens fünf Schritt breit. Eine niedere Mauer, nicht höher als ein Knie, begrenzte jene Seite, die der Halbinsel Aldanon zugewandt war. Auf der gegenüberliegenden Seite war die Begrenzungsmauer sicherlich so hoch wie ein großer Mann, aber regelmäßig durchbrochen, so dass die Soldaten und Drachenwächter mit ihren Waffen ein freies und sicheres Schussfeld vorfanden.

      Hiro legte die fünf Schritt zurück und blickte über die Mauer. Im ersten Moment erschrak er, denn er bekam nicht das zu sehen, was er erwartet hatte zu sehen. Gleichzeitig verstand er jetzt auch die Worte seines Vaters, wenn er in den Abgrund hinter der Mauer blickte. Wo die Mauer auf der einen Seite Turmhoch emporragte, waren es auf der anderen Seite nur ... vielleicht eine Mannhöhe dort, wo er sich gerade befand, etwas weiter vielleicht fünf, woanders vielleicht sogar noch weniger ...

      Mit einem Mal erkannte Hiro die Schwierigkeit, vor der sein Vater stand. Vor wem sollte diese Mauer denn noch schützen, wenn sie so niedrig war?

      Weit lehnte er sich über die Mauer hinaus. Links konnte er das Meer sehen.

      Dort, wo die Mauer an das Ufer stieß, ragte die Mauer, dem Himmel sei Dank, sicherlich noch dreißig Mannlängen in die Höhe, doch gleich daneben hatten sich die Erd- und Steinmassen bis an die Mauer herangeschoben und in unregelmäßigen Schüben den Raum vor der Mauer aufgefüllt.

      Der heiße Atem der Drachen konnte sogar den Fels zum Schmelzen bringen, hieß es in den Legenden der Alten. Dann wandelte sich der Stein und floss dahin wie geschmolzenes Metall.

      Hiro blickte auf das unbekannte Land hinaus.

      Auf das Land, das jetzt den Drachen allein gehörte.

      Unfruchtbar lag es vor und unter ihm, eine einzige Steinwüste, unruhig, durchsetzt von großen und kleineren Steinblöcken, manchmal lagen riesige Blöcke ohne einen ersichtlichen Grund einfach so in der Gegend.

      Man konnte sich vorstellen, dass dieser Grund und Boden noch vor nicht allzu langer Zeit ein flüssiger Lavestrom gewesen war - und vielleicht auch wieder werden würde.

      Aufgeweicht, verdammt und wieder in der Erstarrung gefangen.

      Soweit das Auge blicken konnte, lag das Land öde und verlassen unter ihm. Keine Pflanze, kein Baum, kein Bach oder irgendetwas, das Leben verriet, unterbrach diese Monotonie. Weiter entfernt konnte er die Gipfel der Berge sehen, die mächtig in die Höhe ragten. Auf den Wipfeln schien Schnee zu liegen, so hoch waren sie. In Form eines Halbkreises umgaben sie das Land vor der Halbinsel Aldanon.

      Dort und hinter ihnen sollten die Drachen leben.

      Angestrengt blickte Hiro zu den Bergen hinüber. Vielleicht konnte er einen Drachen erspähen, konnte seinen feuerspeienden Odem ausmachen, aber alles, was er entdeckte, waren dünne Rauchsäulen, die von den Spitzen mancher Berge gegen den Himmel strebten. Hiro konnte das nicht richtig zuordnen, was er sah. Am besten war es wohl, wenn er auf seinen Vater wartete. Der würde ihm erklären können, was es damit auf sich hatte.

      Wenig später kam auch sein Vater oben an. Auch er atmete schwer und im Gegensatz zu Hiro sah man ihm die Anstrengung an, die es ihn gekostet hatte, die vielen Stufen zu ersteigen, doch er erholte sich erstaunlich schnell.

      "Hast du über die Mauer geblickt?", fragte Coling seinen Sohn.

      Hiro nickte.

      "Dann hast du den Unterschied bemerkt", sagte Coling und deutete mit der Hand Richtung Süden. "Lass uns ein Stück auf der Mauer gehen."

      "Sind dafür die Drachen verantwortlich? Hast du jemals einen gesehen?"

      "Ich sehe, was sie bewirkt haben. Und ich kann mir ausrechnen, wie lange es noch dauert, bis sie die Mauer überwältigt haben."

      "Weshalb baut man sie nicht höher?"

      "Noch haben die Bewahrer mehr Fürsprecher bei den Mächtigen."

      "Weshalb sollen die Götter zurückkehren? Sie haben sich seit Jahrhunderten nicht mehr blicken lassen. Es schaut fast so aus, als haben sie kein Interesse mehr an uns."

      "Was du hier mit so wenigen Worten aussprichst, mein Sohn, ist für Embadan Sprengstoff. Aus deinem Mund spricht der Glaube der Baumeister. Das sind die Worte, die ich Zuhause wohl öfters habe fallen lassen und die du mitbekommen hast. Pass auf, dass dich kein Bewahrer diese Worte sagen hört, denn dann hast du eine Anklage wegen Häresie zu erwarten. Sie schrecken selbst nicht davor zurück, Kinder anzuklagen. In dem Glauben der Bewahrer ist die Rückkehr der Götter vorhergesagt, wenn die Not zurückkehrt."

      Hiro sah schuldbewusst zu seinem Vater auf.

      "Dabei wäre es so einfach, ein paar Steine übereinander zu türmen ..."

      "Es klingt einfach, mein Sohn, leider ist es etwas komplizierter. Wie jedes Bauwerk benötigt auch ein neuer Mauerabschnitt ein solides Fundament. Und bei dieser Mauer brauchen wir ein doppeltes Fundament. Eines für die Steine und eines für die Bewohner von Aldanon."

      Ihr Gespräch setzte sich fort, widmete sich aber bald anderen alltäglichen Dingen.

      Hiro genoss die Aussicht über Aldanon. Von hier oben wirkten die Häuser wie die Spielzeugklötze, mit denen auch er als kleines Kind gespielt und seine Fähigkeiten als Baumeister getestet hatte. Er erinnerte sich noch daran, welche Freude es ihm jedes Mal bereitet hatte, wenn sein Vater ihn deswegen gelobt hatte, wenn ihm ein besonders stabiler Bau geglückt war.

      Er suchte sein Elternhaus, und als er es gefunden hatte, verfolgte er mit den Augen die Wege, die er stets ging. Von hier oben sah alles so friedlich aus – und geordnet, als ob es weder Zwist noch Intrigen gäbe, welche die Menschen ständig auf Trab hielten. Dann versuchte Hiro, ein Geräusch aufzunehmen, aber er war zu weit entfernt. Vielleicht wirkte alles nur deshalb so friedlich, weil einer seiner Sinne keine Eindrücke aufnehmen konnte. Das Zetern der ungeduldigen Erwachsenen, wenn ihnen die Kinder zwischen den Beinen hindurchliefen, das Feilschen der Händler und Käufer um den Kaufpreis, und ...Da fehlte noch die Hälfte des Klangbildes, denn