Alfred Bekker

Sommer Krimi Koffer 2021 - 12 Romane


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Zeiten ändern sich.

      Mein Name ist Robert Raboi - aber im Moment nannte ich mich kurzfristig mal anders. Und das hatte seinen guten Grund.

      7

      Ich schritt durch den Zigarettenrauch. Er war dicht wie Morgennebel.

      Ich stoppte am Tisch der fünf Männer und wandte mich an Michael Krawulke. "Hallo, Michael", sagte ich.

      Er schwieg. Seine Unterlippe krümmte sich kaum merklich nach unten. Seine hellen Augen blieben wässrig und ausdruckslos.

      Im Lokal war es still geworden. Nur das leise, monotone Tropfen aus dem Porzellanfilter über der großen Kaffeekanne auf dem Kneipentresen war zu hören. Otto, der Wirt, lehnte mit hochgekrempelten Hemdsärmeln am Tresen und rollte eine erloschene Zigarre zwischen seinen Lippen hin und her.

      Es war eine Szene wie aus einem der Filmstreifen, die sie in den Lichtspielhäusern zeigten. Wie aus diesen Cowboyfilmen, die seit dem ‚Großen Eisenbahnraub‘ immer häufiger in die großen Aufführungssäle kamen.

      Ich hatte erst kürzlich ‚Das eiserne Pferd‘ gesehen und fand Gefallen an der lässigen Art der Cowboys, und ich hatte mir vorgenommen, den Regisseur John Ford im Auge zu behalten.

      "Ich bin Franky", sagte ich und schaute jetzt auch die anderen der Reihe nach an. "Frank Steinfurt."

      Ich stieß auf dumpfes Misstrauen und lauernde Abneigung, aber kaum auf echte Überraschung. Keiner der Männer sagte auch nur ein Wort.

      "Frank Steinfurt", murmelte Michael Krawulke schließlich. Er hatte die ledern wirkende Haut eines Kriegsteilnehmers, jedoch meinte ich damit nicht den Großen Krieg, der mit dem Desaster des Kaiserreiches 1918 endete. Bei seinem Anblick dachte ich eher an 1870-71. Aber ich wusste natürlich, dass er erst achtunddreißig war.

      "Ich denke, ihr wisst, wer ich bin", sagte ich.

      Die Männer wandten ihre Köpfe und schauten Michael Krawulke an.

      Er war ihr Sprecher, der Chef, wie man die Anführer in diesen Kreisen zu nennen pflegte. Diese Männer trugen alle einfache, ursprünglich auch mal sauber gewesene Hemden, dazu die derben Drillichhosen und abgewetzte Schuhe. So, wie sie wohl an jedem Morgen in die Fabrik gegangen waren.

      Aber das lag lange zurück und hatte den Kummer in ihre Gesichter geschrieben. Keiner dieser Männer mochte älter als vierzig Jahre sein, aber ihre grauen, eingefallenen Gesichter und die tief in ihren Höhlen liegenden Augen machten sie um zwanzig Jahre älter.

      Ich kannte solche Menschen zur Genüge.

      Sie bekamen den Geruch von Kohlsuppe, Zigaretten und Bier gar nicht mehr aus ihren ungepflegten Haaren oder der Bekleidung, die wahrscheinlich in der Nacht neben ihren kargen Betten lagen und am nächsten Tag wieder überzogen wurden.

      Ich sah diese ärmlichen Wohnungen förmlich vor mir, konnte den abstoßenden, sauren Geruch nach ungewaschenen Körpern erkennen und sah die überfüllten Aschenbecher und die geöffneten ausgetrunkenen Bierflaschen.

      Auch wenn diese Männer wohl alle leicht unterernährt waren, gab es keinen Grund, sie nicht zu fürchten. Das waren harte Burschen, zäh wie ein Stück altes Leder und auch immer ziemlich schnell mit ihren harten, schwieligen Fäusten dabei, wenn etwas schief lief.

      Solche Männer gehörten vor gar nicht so langer Zeit zu meinem Alltag.

      Ich schäme mich auch nicht, wenn ich heute zurückblicke und sagen kann, dass ich mich kaum von ihnen unterschied.

      Vielleicht hatte ich nur ein wenig mehr Grips als die meisten von ihnen. War etwas schneller bei der Sache, und hatte eine lange Zeit auch richtig Glück mit meinen kleinen Streifzügen durch das nächtliche Berlin, ein steter Tanz auf dem Vulkan.

      Bis dann, durch einen ganz dummen Zufall, doch so einiges schieflief.

      Vielen steckte noch der große Krieg in den Knochen und nach einer anstrengenden Aufholjagd war mein Berlin nach New York und London wieder wer – und Lebenslust und Lebensgier waren im turbulenten Nachtleben vom Potsdamer Platz bis zu den kleinen Bars und Tanzlokalen in den Bezirken manchmal nicht mehr zu unterscheiden.

      Doch diese Gedanken schob ich jetzt schnell ganz weit nach hinten. Ich musste mich auf meinen Auftritt in dieser Kneipe mit dem romantischen Namen ‚Knuff‘ konzentrieren.

      Michael Krawulke stand auf. Noch immer sagte niemand auch nur ein Wort und es war verdächtig still in dieser Pinte geworden.

      Er schob seinen Stuhl zurück, kam um den Tisch herum, blieb dicht vor mir stehen und stieß mir dann den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Brust.

      "Hau ab, Schnüffler", sagte er scharf. "Polizisten haben hier nichts zu suchen."

      In meinem Magen bildete sich ein Klumpen tiefgefrorenen Eises aus. Ich hielt es für ausgeschlossen, dass jemand in diesem Ort und in diesem Kreis meinen Namen und meine Tätigkeit kannte.

      Ich war eigentlich Robert Raboi, Sonderermittler mit eigenen Methoden. Aber nicht für diese Männer. Sie mussten lernen, in mir Franky Steinfurt zu sehen. Wenn sie wussten, dass Franky tot war, hatte ich freilich keine Chance, meine Rolle zu Ende zu spielen.

      Aber war Franky Steinfurt wirklich tot?

      Für seinen Arbeitgeber war er einfach verschwunden.

      Plötzlich. Unerklärlich. Der beste Ingenieur der Stadt, der Mann, der viele Vorteile in sich bündelte und von allerhöchster Stelle ausgesucht wurde, um mit einigen anderen ein neues Flugzeug zu konstruieren.

      Eines, dass uns verboten war. Der Versailler Vertrag sah so etwas nicht vor, nachdem wir den Großen Krieg verloren hatten.

      Deshalb war ich hier. In einer Berliner Eckkneipe, die sich so schön ‚Knuff‘ nannte und nicht zum besten Viertel der Stadt gehörte. Aber das war Tegel eigentlich noch nie. Schon gar nicht mit dem "Strafgefängnis Berlin-Tegel" wie es seit ein paar Jahren hieß.

      Aber es gab neue Bestrebungen.

      Gustav Lilienthal hatte mit seiner Wohnsiedlung Freie Scholle den Anfang gemacht. Jetzt sollte das gute Alt-Reinickendorf sogar noch Erholungsgebiet für Groß-Berlin werden. Davon war in diesem Abschnitt mit den elenden Mietskasernen und stillgelegten Fabriken bislang wenig zu erkennen.

      Michael Krawulkes Bande bestand aus fünf vorbestraften, ausgekochten Burschen, aber nach dem mir zugänglichen Informationen gehörten sie weder einem der Ringvereine noch der Schwerkriminalität an. Es waren hartgesottene Burschen, die von mehr oder weniger krummen Geschäften lebten, Ladenüberfälle und Wohnungseinbrüche da inbegriffen. Ihre Aggressivität erschöpfte sich aber nur in gelegentlichen Prügelszenen.