Isolde Kakoschky

Herbstblatt


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übervorsichtig, bremste trotzdem viel zu stark und erschrak heftig, als das ABS einsetzte. So lang war ihr diese Strecke noch nie vorgekommen. Endlich erreichte sie den Firmenhof und stellte das Auto wohlbehalten ab. Sie wagte nicht, daran zu denken, was gewesen wäre, wenn sie es nicht geschafft hätte.

      Weil es in ihrer Firma auch einen kleinen Landhandel gab, musste Cosima an manchen Tagen sehr zeitig morgens zum Großmarkt fahren. Das bedeutete für ihre beiden Söhne, dass sie dann alleine aufstehen mussten. Tim und Tom waren inzwischen knapp 12 und 9 Jahre und eigentlich sehr selbständig. Eines Tages, als Cosima von einer solchen Fahrt zurück kam, traf sie fast der Schlag, was der Chef ihr berichtete.

      Die beiden hatten verschlafen. Das bedeutete für Tim, dass der Schulbus zum Gymnasium weg war. Er hoffte, in der Firma Mutti oder Vati doch anzutreffen, damit ihn einer in die Schule bringen konnte. Tom hätte zwar gut zu Fuß in die Grundschule gehen können, wie jeden Tag, doch er tat im Zweifel immer das, was sein großer Bruder auch tat und trottete hinterher. Dort las sie Robert Weihtmann auf.

      »Das waren vielleicht zwei Häufchen Unglück!« grinste er Cosima an. Fassungslos hörte sie weiter zu.

      Jedenfalls packte Robert die beiden Jungs ins Auto und fuhr erst den Kleinen in die Grundschule und dann den Großen zum Gymnasium. Da kamen sie nun zwar eine Stunde zu spät, aber wohlbehalten an.

      Cosima war sprachlos. »Vielen Dank!« brachte sie mit einem Kloß im Hals heraus. Und ihr Herz tat einen kleinen Sprung.

      Zu Hause fand sie am Nachmittag zwei schuldbewusste Jungs vor.

      »Na sagt mal, was war das denn heute früh?« nahm sie sich die beiden vor. Sie lächelte, denn böse konnte sie ihnen doch nicht sein.

      Und da platzte der Kleine raus: »Na toll war das! Dein Chef ist aber nett! Der hat uns mit dem Jeep in die Schule gefahren!« Dass der »Jeep« ein betagter Lada‐Niva war, interessierte nicht, die Jungs waren begeistert.

      Und Cosima dachte: Ja, er kann schon manchmal sehr nett sein, manchmal …

      Doch viel zu oft war der Arbeitshimmel getrübt. Robert konnte wegen Kleinigkeiten an die Decke gehen und schrie sie dann an, dass sie oft genug danach heulend in einer Ecke saß und sich fragte, bin ich jetzt eigentlich Weibchen oder Männchen? Und noch schlimmer erging es ihren Kollegen.

      Wenn da etwas schief ging, musste sie das Büro verlassen, wenn der betreffende Fahrer rein kam. Doch die Lautstärke wurde nur unwesentlich durch die Tür gedämpft und Cosima verkroch sich dann am liebsten ganz weit weg.

      «Sind doch alles Dilettanten!« tobte er danach noch rum und Cosima fühlte sich von diesen Worten fast persönlich getroffen.

      Die Angst vor ihrem Chef war allgegenwärtig. Nachts wachte sie aus Albträumen auf, die auch nach dem Erwachen noch völlig realistisch waren. Sie lief weg. Sie lief und lief und lief, sie wollte weg. Doch ihr Verfolger kam immer näher. Sie schrie vor Angst und erwachte mit klopfendem Herzen. Und immer war der Verfolger ihr Chef.

      So gut auch die Zusammenarbeit meistens mit ihm war, so groß war doch der Druck, unter dem sich Cosima befand. Der Wunsch, ihm alles recht zu machen, lag wie ein schweres Gewicht auf ihr.

      Mit der Getreideernte kam neue Arbeit auf Cosima zu. In den Lagerhallen, in denen bis vor kurzem noch Kartoffeln gelagert wurden, die hunderte Frauen sortierten und schälten, wurde nun Getreide angenommen, zwischenzeitlich gelagert und wieder verladen. Geschäftsfreunde von Robert Weihtmann hatten zwei neue große 40‐Tonnen‐Kipper angeschafft, die nun regelmäßig in der Firma Getreide abholten. Cosima war schon immer ein LKW‐Fan gewesen. Dadurch hatte sie sogar ihren Mann kennen gelernt. Und deshalb war sie auch so gerne mit ihren Kollegen zusammen. Und nun gab es nicht Besseres, als mit den fremden Fahrern zu sprechen und die großen Sattelzüge zu bewundern. Sie mochte die LKW‐Fahrer und war sehr rasch wieder beim kameradschaftlichen »Du« angekommen. Doch sie merkte schnell, dass das ihrem Chef ein Dorn im Auge war. Wenn er sie bei vertrauten Gesprächen erwischte, folgte die Strafe auf dem Fuß. Entweder verbot er ihr, das Büro zu verlassen oder er redete kaum noch mit ihr. Beides traf sie hart und er wusste es nur zu genau.

      Wenn aber gute Stimmung war, dann bezog er sie in seine Gedanken und Entscheidungen ein. So wusste sie bald, dass es auch in ihrer Firma demnächst einen neuen Sattelzug geben würde. Die alten 10‐Tonnen‐LKW aus DDR‐Beständen wollte er nach und nach aus dem Verkehr ziehen. Und noch etwas wusste sie bald, dass er ihren Mann Reiner als einen Fahrer für den Sattelzug vorgesehen hatte. Da in absehbarer Zeit die beiden Firmen fusionieren würden, war das möglich geworden, ohne dass Reiner vorher die Firma wechselte. Reiner verstand sich eigentlich recht gut mit Robert Weihtmann und Cosima versuchte, ihn nicht zu beeinflussen, indem sie ihre Probleme für sich behielt. Nur, immer gelang das nicht.

      An dem Tag, als der neue LKW geliefert wurde, fand sich alles was Beine hat, auf dem Hof ein. Zu gerne wäre auch Cosima dabei gewesen. Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Sie

      fragte sich, wofür er sie bestrafte. Sie hoffte, er würde sie noch raus gehen lassen. Doch sie musste im Büro bleiben, dort, wo es keinen Blick zum Hof gab. Natürlich bemerkte Reiner das und fragte sie am Abend zu Hause. Doch statt sich ihren Ärger von der Seele zu reden, suchte sie nach einer Entschuldigung für Roberts Verhalten.

      »Es musste doch jemand am Telefon sein«, sagte sie und wusste ganz genau, dass es eine dumme Ausrede war, schließlich gab es einen Anrufbeantworter, den sie jedes mal anschaltete, wenn sie das Büro verließ. Reiner schüttelte den Kopf. Ihm war das zu blöd, doch seine Frau musste wissen, was sie tat.

      Längst war Reiner aufgefallen, dass Cosima Kaugummi kaufte, obwohl sie doch gar keinen Kaugummi mochte, Robert Weihtmann aber schon. »Musst Du Deinen Chef gnädig stimmen?« fragte er dann seine Frau. Ja, genau so ist es, dachte Cosima, wenn sie penibel darauf achtete, dass immer eine Packung Kaugummi in seinem Schreibtisch lag. Sie wollte ihrem Chef etwas Gutes tun, ihm zeigen, dass sie an einem guten Verhältnis interessiert war.

      Während Cosima über den Abrechnungen der Rübenernte saß und kaum noch aus ihrem Büro heraus kam, wurde nur 10 Meter weiter ein neues Büro ausgebaut und sie bekam kaum etwas davon mit. Sie wusste nicht, dass das Jahr ihrer Einzelhaft« bald vorüber sein würde.

       3.

      Verdammt, siehst Du denn nicht Daß hier drinnen jemand lebt;

      Eine Kreatur, die atmet

      Und sich nach Liebe sehnt?

      Am Nikolaustag sagte Robert Weihtmann zu ihr: »Packen Sie Ihre Sachen zusammen, heute wird umgeräumt.« Von diesem Tage an war sie nicht mehr allein mit ihm, denn die verbliebenen Kolleginnen aus Reiners Firma, die noch einen Rest des Kartoffelhandels betrieben, zogen mit Cosima gemeinsam in die neuen Büroräume. Die waren schön und praktisch gestaltet, mit viel Glas und mit freiem Blick zum Hof.

      Trotz der neuen Räume änderte sich nichts an Roberts Verhalten, Cosima gegenüber. Nur war das bisher im Verborgenen abgelaufen, so wurden die anderen Kolleginnen immer öfter Zeugen seiner Ausbrüche und Cosimas Tränen. Cosima schämte sich dafür, was er mit ihr tat, doch immer, wenn sie jemand darauf ansprach, fand sie eine Entschuldigung für sein Verhalten. Sie war wie ein Kind, das geschlagen wird und meint, es hätte es verdient, weil es die Eltern trotz allem liebt.

      Selbst dachte sie an Liebe jedoch nicht. Der erste, der das Wort in dem Zusammenhang aussprach, war ihr Mann Reiner. Nachdem sie wieder einmal ihre Stimmung auch zu Hause nicht verbergen konnte, sagte er es ihr auf den Kopf zu: »Merkst Du denn nicht, dass Du ihn liebst?«

      »Nein!« Sie wies es weit von sich, laut und deutlich und auch innerlich. So einen unmöglichen Typen konnte sie doch nicht lieben!

      Doch von diesem Tag an lauschte sie immer öfter tief in sich hinein, wenn ein Streit zwischen ihr und Robert Weihtmann in der Luft lag. Und als ihre Kollegin sie fragte, warum sie sich das alles gefallen lasse, da überlegte sie doch: »Liebe ich ihn?« Niemals hätte sie das offen ausgesprochen, doch der Gedanke war da und hatte sich festgesetzt. Plötzlich