Gisela Sachs

Tatort Deutschland


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Rücken. »Kalle, Kalle.«

      Marie zerrt den Apfel aus der Hosentasche, den sie vom Frühstücksbüffet mitgenommen hat, beißt hinein.

      »Kein bisschen süß.«

      Sie wirft den Granny Smith in hohem Bogen in das Wasser, lacht. »In Weitwurf war ich immer besonders gut.«

      Die Fahrt zurück ins Ramadan Hotel nach Leipzig verläuft schweigend. Kalle und Bennet lauschen angespannt der Stimme von Radio Leipzig.

      »Die Polizei in Dresden erlässt eine Verordnung, wonach Hochwassergaffern ein Bußgeld bis zu 1000 Euro droht.«

      Marie sitzt auf der Rückbank und hackt auf ihrem Handy herum.

      »Eine Gruppe der Freiwilligen Feuerwehr aus Rüdesheim unterstützt uns derzeit in Grimma. Sie werden das Rathaus vom Wasser befreien.

      Es wurde eine Soforthilfe für Hochwassergeschädigte eingerichtet. Die Betroffenen können das Handgeld in ihrer Gemeinde beantragen. Pro Erwachsenem gibt es 400 Euro.«

      »Dann mach das mal, Bennet«, sagt Marie. »400 Euro für den alten Plunder deiner Eltern zu bekommen ist reine Glückssache. Die Gelegenheit kriegste auch nicht alle Tage.«

      Marie telefoniert mit Hotte. »Ich habe Lust auf Party machen.«

      »Heute?«

      »Heute!«

      »Nach diesem Tag, Marie?«

      »Jetzt stell dir mal nischt so an, Hotte.«

      »Ein anderes Mal, Marie.«

      »No second chance, Hotte!”

      Marie telefoniert mit Lutze. »Ich habe Lust auf Party machen, Lutze.«

      »Party machen?«

      »Jups.«

      »Hast du Geburtstag oder was?« Marie lacht. »Nee.«

      »Was gibt es zu feiern, Marie?«

      »Das Leben«, sagt Marie.

      »Heute?«

      »Jups«, sagt Marie. »Heute! Und du kriegst keine zweite Gelegenheit, Lutze.«

      »Wo treffen wir uns, Marie?«

      »Vor dem Hoteleingang, Lutze.«

      »Vor neun Uhr schaffe ich es aber nicht, Marie.«

      »Jut«, sagt Marie. »Dann bis um neun Uhr vor dem Hoteleingang, Lutze.«

      Pünktlich um neun Uhr steht Lutze vor dem Haupteingang des Ramadan Hotels, sieht immer wieder auf seine Armbanduhr. Er ist hungrig, hatte keine Zeit mehr etwas zu essen.

      Kalle tritt aus der Tür, fummelt sich eine Zigarette aus seiner Hosentasche, steckt sie mit zitternder Hand in den Mund und hält das Einwegfeuerzeug dicht darunter. Er inhaliert tief, betrachtet besorgt den Himmel. Es sieht nach Regen aus. Dann erst sieht er Lutze.

      »Auf was wartest du denn?«, fragt Kalle.

      »Ich habe ein Date mit Marie.«

      »Ach?«

      Bennet gesellt sich zu Kalle, zündet sich ebenfalls eine Zigarette an. Er klopft Kalle auf die Schultern. »Ich freue mich, dass deine Eltern sich für die Notunterkunft entschieden haben.«

      »Ich auch«, sagt Kalle und sieht den Rauchwölkchen seiner Zigarette hinterher.

      Röhre gesellt sich dazu. »Du warst nicht beim Abendbrot, Lutze«, sagt Röhre. »Keinen Hunger gehabt heute?«

      »Ich habe geduscht, meine Haare gewaschen, habe eine Verabredung mit Marie. Sie will Party machen und ...«

      »Ich weiß, Lutze.«

      Es gesellen sich noch Hotte, Achim, Edgar und andere junge Männer dazu. Einige von ihnen haben Taschen dabei, einige Rucksäcke mit Flaschen auf dem Rücken.

      Marie erscheint, strahlt in die Runde. »Schön, dass ihr gekommen seid, Jungs. Dann mal auf zur Sandsackparty!«

      Marie hat sich fein gemacht: kurzer Jeansrock mit schwarzem Volant, hautenges weißes T-Shirt, schwarze High HeelSandaletten. An ihren Ohren baumeln die riesengroßen Gold-kreolen, die sie sich von Bennett zum 25. Geburtstag gewünscht hatte.

      »Sie trägt keinen BH«, sagt Kalle zu Bennet. »Man kann sogar ihre Nippel sehen.«

      »Hm«, sagt Bennet, dreht sich um und peilt die Eingangstür an. »Bennet?«, ruft ihm Kalle hinterher.

      »Gehst du nicht mit uns mit?«

      »Nein«, sagt Bennet und verschwindet im Hotel.

      »Wir laufen zur Uni«, sagt Marie in die Runde. »Dort warten schon ein paar Typen.«

      »Aha«, sagt Kalle.

      »Sie haben Mangiare und Alk mit«, lacht Marie.

      »Aha«, sagt Röhre.

      Sie laufen hintereinander wie eine Entenfamilie, Marie im Laufschritt voraus, am Grassi-Museum und an der Gutenberg-Galerie vorbei bis zur Uni. Marie wackelt provozierend mit ihrem Hintern. »Diese Schlampe«, nuschelt Röhre.

      Schon von weitem ist die grölende Gruppe mit den jungen Männern hörbar. »Da sind sie ja«, sagt Marie und winkt.

      Sie begrüßt jeden einzelnen mit Küsschen links und

      Küsschen rechts auf die Wange. »Das ist Röhre, das ist Kalle, das ist …«

      Kalle und Röhre setzen sich auf eine Bank. Eine der tätowierten Jungs breitet auf dem Boden eine Decke aus, schüttet Knabbersachen darauf. Schmitti mit den eidottergelb eingefärbten Haaren lässt seine Flasche mit dem Mecklenburger Doppelkorn reihum gehen.

      »Nein, danke«, sagt Kalle. »Nein danke«, sagt Röhre, als er ihnen die Flasche anbietet. »Dann eben nicht«, sagt Schmitti, setzt die Flasche an und rülpst wie ein Schwein. »Seid wohl etwas besseres, was?«

      Marie rockt zur Rammstein-Musik. Es herrscht Ballermann Stimmung. Eine der Gestalten mischt Cocktails, hat in einer Plastikschüssel sogar Eiswürfel und braunen Zucker mit dabei.

      Marie hat Kreide mitgebracht, malt 11 Kästchen auf den Boden. In das erste Kästchen schreibt sie »Erde’. Die weiteren Kästchen nummeriert sie. 1,2,3,4,5,6,7,8. In das neunte Kästchen schreibt sie »Hölle’, in das zehnte »Himmel.’

      »Wir spielen Himmel und Hölle«, sagt Marie. Sie hebt ihr linkes Bein hoch wie ein Hund beim Pinkeln, fällt fast um und hüpft auf dem rechten Bein von Feld zu Feld. »Ich hab die Reihenfolge verwechselt«, kichert sie und fängt noch mal von vorne an. Sie hebt ihr rechtes Bein in die Höhe und hüpft, ist glücklich im Himmel angekommen. »Jetzt du, Röhre«, befiehlt sie. Und vergisst auf dem Rückweg die Hölle auszusparen.

      Als nächstes hüpft der nicht mehr standfeste Cocktailmixer. Er stürzt bei Kästchen Nummer drei. Marie lacht. »Noch einmal, Harry.«

      Danach hüpfen Hotte, Achim, Edgar, Schmitti, Denny, Gockel, Kevin. Und immer wieder Marie. Sie wird lautstark von den Jungs angefeuert. »Hüüü hüpf, Marie.«

      Und Marie hüpft. Und hüpft. Und hüpft.

      »Wir ziehen um«, sagt Röhre irgendwann. »Die Party geht anderswo weiter.«

      Es sind nur noch Kalle und Röhre da. Röhre zieht Marie von der Bank hoch. »Komm, Marie.«

      Kalle sammelt die leeren Flaschen und Pappteller von den Bänken und dem Boden auf, verteilt sie in die Mülleimer, lässt seine Blicke umher schweifen. »Alles sauber!«, stellt er zufrieden fest.

      »Wohin geht’s?« fragt Marie.

      »Überraschung«, sagt Röhre.

      Marie kichert. »Ich liebe Überraschungen.«

      Sie laufen los. Marie in der Mitte, Kalle rechts und Röhre links. »Immer schön geradeaus, Marie«, sagt Röhre.