Kartoffeln, Fleischstücken und verschiedenen Gemüsesorten lecker duftend vor sich hin. Erst der unverhoffte Kaffee, und jetzt das! Ich beglückwünschte mich innerlich ausgiebig zu meiner klugen Entscheidung, hierher zu ziehen. Diese kulinarischen Highlights hätte ich sonst unweigerlich verpasst. Es mussten anscheinend auch andere Mitbewohner ihre allerletzten Vorräte von zu Hause mitgebracht und zur Verfügung gestellt haben.
Seit sich dieser für die Technik so destruktive EMP ereignet hat, habe ich sowieso den Eindruck, als hätten in mein vorher recht eintöniges Leben mehr Kontraste, mehr Höhen und Tiefen Einzug gehalten.
Innerhalb dieser wenigen Stunden, die seither vergangen sind, war ich wechselweise mit Hunger, Angst, Freude, Genuss, totaler Erschöpfung und Kameradschaftsgeist konfrontiert worden. Allesamt starke Emotionen und Erlebnisse, die zuvor in meinem Leben ziemlich unterrepräsentiert gewesen waren, oder zumindest im Alltag bei weitem nicht so intensiv ausfielen. Die Bandbreite des bewussten Erlebens hat sich für mich irgendwie erweitert, ich fühle neuerdings den aufregenden Puls des Lebens. Im Positiven wie im Negativen.
Schon seltsam, aber dieser Aspekt der Katastrophe beginnt bereits, mir zu gefallen. Ganz schön abgefahren, sich solche Gedanken in einem beginnenden Desaster zu machen, oder?
Wenn ich nur an den Weg zu meinen Eltern denke, den ich vor wenigen Stunden mit Alexandra gegangen bin! Früher fuhr ich gelegentlich nach dem Dienst mit dem Auto kurz dort vorbei, suchte jeweils schon nach kurzer Zeitdauer und ein paar nichtssagenden Gesprächen hektisch nach einem Vorwand, mich verabschieden und endlich nach Hause in den Feierabend fahren zu können.
Ich wollte meine wohlverdiente Ruhe haben. Abends noch etwas Freizeit träge vor dem Fernseher genießen können, bevor ich mich am folgenden Tag erneut in die berufliche Tretmühle stürzen musste. Ein fades Leben – meine Eltern hatten das Ihre, ich lebte mein eigenes.
Und heute? Dieselbe Welt, dieselbe Umgebung, dieselbe Jahreszeit, dieselbe Familie. Dennoch ist nichts mehr so, wie ich es mein ganzes bisheriges Leben lang als unumstößlich gewiss wahrgenommen habe.
Alexandra und ich brachen am frühen Nachmittag auf, die genaue Uhrzeit lässt sich zurzeit nicht mehr ohne weiteres herausfinden. Aber das ist egal, wen müsste es auch kümmern, wie spät es gerade ist? Das enge Korsett der Zeitplanung war so ziemlich das erste, wovon ich und alle anderen Betroffenen nach dem EMP befreit wurden. Jawohl, befreit! Genauso empfinde ich das. Bei Temperaturen um die 0 Grad schneite es leicht, nass und schwer klatschten die nur halb gefrorenen Schneeflocken zu Boden. Meine Eltern wohnen nicht allzu weit entfernt, vielleicht so um die zwei Kilometer. Das ist eine Distanz, welche auch zu Fuß bequem zu erreichen ist. Obwohl ich mit dem Auto schon sehr oft dieselbe Strecke gefahren bin, drängte sich mir gleich der Eindruck auf, als würde ich heute diesen Weg zum allerersten Mal zurücklegen.
Es muss an der erhöhten Aufmerksamkeit liegen. Daran, dass mein Fokus auf ganz anderen Details ausgerichtet ist. Wo mich früher Ampeln, viel zu langsam zockelnde Verkehrsteilnehmer oder Parkmöglichkeiten interessieren mussten, da konnte ich heute ganz andere Kleinigkeiten bewusst wahrnehmen.
Hier der Blick in einen romantischen Hinterhof zwischen Backsteingebäuden, dort eine Mutter, die ihren beiden Mädchen soeben ihre letzten Äpfel in die Hand drückt, um sie vorläufig vor dem Hungern zu bewahren, all das war neu für mich. Gleichzeitig war es ratsam, die fremden Menschen im Auge zu behalten, die einem so begegneten. Alles im Hinblick darauf, ob man sich vor ihnen aufgrund der Ausnahmesituation in Acht zu nehmen hatte, oder ob es sich eher um friedliche Zeitgenossen zu handeln schien. Alexandra erging es offenbar ganz ähnlich. »Ich vermisse die Aktenleserei gar nicht, findest du das eigentlich merkwürdig?«, fragte sie nachdenklich. »Es gibt doch so viele andere Dinge, so viele Möglichkeiten, seinen Tag auszufüllen und interessant zu gestalten. Nur hatten wir vor lauter eintöniger Arbeit überhaupt nicht die Möglichkeit dazu!«
Ich sah ihr in die Augen und nickte verständnisvoll, während wir gemächlich eine alte Gaststätte passierten, die schon seit längerer Zeit ihre Pforten geschlossen hatte.
»Schau mal, zum Beispiel hier! Die haben dort hinten, wo einst der Biergarten gewesen sein mag, noch diese schönen alten Metallschilder hängen! Sie sind zwar weitgehend verrostet, aber mir haben diese bunten Werbetafeln schon als Kind sehr gut gefallen. Mir würde es echten Spaß machen, so ein uraltes ›AfriCola‹-Schild schön vom Rost zu befreien, es neu zu lackieren und zu bemalen. Einfach als Wandschmuck.«
»Genau!«, strahlte Alex. »Ich liebe Tätigkeiten, von denen am Ende des Tages etwas bleibt. Wenn ich etwas erschaffen habe, das ich später noch sehen und anfassen, mich daran erfreuen kann, meine Tätigkeit einen Sinn hatte.
Da stellt sich dann viel leichter ein Erfolgserlebnis ein, als das bei unserem Job im Rathaus der Fall ist … nein, war, meine ich natürlich! Wenn ich von dort am Abend nach Hause gegangen bin, war ich einfach nur ausgelaugt und genervt. Der Aktenstapel vom Morgen war erledigt, dafür lag ein neuer da. Es fiel mir immer schwerer, hieraus eine Befriedigung zu ziehen!«
»Du sprichst mir aus der Seele!« Die nächsten paar hundert Meter gingen wir schweigend nebeneinander die Straßen entlang, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Meinen Schal fest um den Kopf gewickelt, wanderte ich durch den Schneeregen, ohne mir wie sonst Gedanken um meine Frisur zu machen. Man wird inzwischen nicht mehr für eine tolle Haartracht oder die neueste Mode bewundert, sondern eher für Organisationstalent und Mut. Plötzlich blieb Alex abrupt stehen. »Ach, du lieber Himmel!
Schau mal, es hat schon angefangen!«
Ich sah in die von ihr angezeigte Richtung auf der anderen Straßenseite und stellte fest, dass man wohl eine kleine Metzgerei mit angeschlossenem Lebensmittelladen ausgeplündert hatte. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen worden, Glasscherben und Verpackungsteile lagen wüst auf dem Gehweg verstreut.
»Das wird jetzt wohl überall Schule machen!«, stellte ich angewidert fest. Dennoch beschlich mich eine leise Ahnung, dass selbst grundanständige Leute wie Alex oder ich noch in Situationen geraten mochten, in denen wir einige unserer anerzogenen Grundsätze fallen lassen müssten, um zu überleben.
Aber heute noch nicht! Man konnte natürlich auch leicht mit dem Finger auf andere zeigen, so lange man selbst einen Teller Eintopf im Magen hatte.
Wir erreichten die Straße, in welcher meine Eltern vor fünf Jahren ihre Eigentumswohnung gekauft hatten. Lange mussten sie damals nach einer behindertengerechten Wohnung im Erdgeschoss suchen, die den Bedürfnissen meines nach einem Schlaganfall gehbehinderten Vaters gerecht werden konnte; doch die Geduld bei der monatelangen Suche war schließlich belohnt worden, ihre neue Wohnung war ebenso funktional wie schön.
»Sieh mal, diese Fahrbahn ist schon von den während der Fahrt liegen gebliebenen Fahrzeugen befreit worden! Sollten wir jemals zu unserem ›alten‹ Leben zurückkehren können, werden die Versicherungsgesellschaften wohl erst einmal alle blitzartig pleitegehen! Ich möchte nicht wissen, wie viele Totalschäden sich alleine in dieser Straße konzentrieren!«
Ich musste trotz des unschönen Anblicks der ineinander verkeilten Blechlawinen lächeln. »Du hast vielleicht Sorgen! Na, ich habe ja vorläufig auch noch gut lachen: Mein ›schöner Autowagen‹ steht schließlich äußerlich wohlbehalten zu Hause in seiner Parkbucht!
Wobei ich übrigens ohnehin der Meinung bin, dass das Geldsystem sich nicht so einfach von heute auf morgen wieder erholen wird; weder für die Versicherungskonzerne, noch für sonstige Wirtschaftsunternehmen wird in der ersten Zeit nach der Krise
›Business As Usual‹ problemlos wieder funktionieren. Besonders dann nicht, falls es weltweit zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung und aller elektronischen Systeme gekommen sein sollte, was wir ja nach wie vor nicht sicher wissen.
So, wir sind am Ziel angelangt, meine Eltern wohnen hier in Nummer 31. Ich gehe mal eben um die Hausecke, um hinten an die Terrassentür zu klopfen!«
Sorry liebe Leute, mir fallen alle paar Minuten die Augen zu. Die Buchstaben auf dem Blatt vor mir verschwimmen schon zu einem schwarzen Einheitsbrei. Ich werde mich jetzt besser mit einem Extrapaar dicker Strick-Socken an den Füßen in meinem Schlafsack zusammenrollen. Weiterschreiben kann ich morgen