Andrea Ross

EMP


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sorgfältig wieder ab. Alle hoffen wir inständig, die Sachen niemals benutzen zu müssen, sie in naher Zukunft scherzend zurück in die Garage von Peters Schwester verfrachten zu dürfen. Über unsere paar Tage in der Steinzeit später den Enkelkindern witzige Anekdoten erzählen zu können, wie wir uns damals voller Zukunftsangst vorsorglich auf Schlimmeres eingestellt hatten.

      Doch die verzweifelte Hoffnung, dass es sich nur um eine kurzzeitige Unterbrechung des gewohnten Lebens handeln könnte, um ein bloßes Intermezzo mit überschaubaren Schäden, schwindet mit jeder vergehenden Stunde. Wir alle fühlen das, die zunehmende Resignation ist meinen Kollegen mühelos anzusehen. Manchen mehr, anderen weniger.

      »So! Habt ihr auch solchen Kohldampf? Dann sollten wir uns jetzt lieber einmal um etwas zum Essen kümmern! Folgt mir!« Peter steuerte mit dynamischem Schritt die Treppe an, welche in die fünf oberen Stockwerke des Rathauses II führte. Klaus, der alleinige Hüter des Generalschlüssels, beeilte sich, um rasch zu ihm aufzuschließen.

      Wir anderen folgten. Ich keuchte neben Alexandra die Treppe hoch, welche die ungewohnte Anstrengung ebenfalls sichtlich mitnahm. Normalerweise benutzten fast alle Bediensteten den altersschwachen Aufzug, falls es mehr als ein Stockwerk zu überwinden galt oder Aktenstapel zu schleppen waren.

      »Ich glaube, ich kann mir denken, was er vorhat!«, sinnierte Alex außer Atem. »Er will bestimmt nachschauen, was in den Teeküchen noch so an brauchbaren Lebensmitteln lagert! Klaus kann ja alles aufsperren, und dann werden wir schon sehen, ob sich das Treppensteigen gelohnt hat.«

      Wir erreichten den fünften Stock, in welchem in normalen Zeiten städtische Steuerangelegenheiten bearbeitet werden. Zu unserem Erstaunen strebte Peter aber nicht die Teeküche an, sondern das vorderste Zimmer in der langen Reihe von Türen. Klaus fragte nicht lang und schloss auf.

      »Wie euch bekannt ist, sind die Zimmer alle durch nicht versperrte Zwischentüren verbunden. So können wir schnell und systematisch in sämtlichen Räumen nach Lebensmitteln suchen. Am besten, wir teilen uns in zwei Gruppen: die einen überprüfen die rechte Seite des Flurs, die anderen die linke.

      Vergesst bitte nicht, sorgfältig in alle Schreibtischschubladen zu sehen, auch in den Einbauschränken könntet ihr fündig werden. Nicht jeder Kollege hat dort drinnen ausschließlich Akten verstaut«, grinste Peter vielsagend.

      »Und schaut auch nach anderen brauchbaren Sachen, zum Beispiel nach Wasser in Flaschen, Kerzen, Streichhölzern oder mechanischen Feuerzeugen!«

      Selina, die Sekretärin des Steueramts, stand mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn etwas abseits im Flur. Ihr war überdeutlich anzusehen, dass sie voller Verachtung für Peters Anregung steckte. Das ungefähr 1,60 m große Persönchen mit den dunklen, sorgfältig gestylten Locken wirkte in diesem Augenblick ein wenig wie ein furioser Giftzwerg.

      »Nein, das werden wir ganz bestimmt nicht tun!« Sie versuchte nach Kräften, ihre hohe, piepsige Stimme etwas resoluter klingen zu lassen, ihr Nachdruck zu verleihen. »Ich gehe nicht an fremde Schreibtische, das wäre Diebstahl und ein Eingriff in die Privatsphäre des jeweiligen Zimmerinhabers!

      Habt ihr denn schon jeden Anstand, eure gesamte Erziehung verloren? Wir sind doch keine Wilden!« Selinas dunkle Augen verschossen wütend Blitze in Peters Richtung.

      Peter seufzte genervt, wandte sich dann Selina zu. »So! Jetzt hör mir mal genau zu! Ich habe Verständnis für deine Einwände, die für gewöhnlich auch ihre Berechtigung hätten. Egal, was du von mir denken magst: auch ich begehe im Normalfall keine Diebstähle. Aber das heute ist etwas komplett anderes, hier geht es ums Überleben, nebenbei auch um das deine. Dies hier sind außerdem in erster Linie Diensträume, keine Privatwohnungen! Wo sind sie denn abgeblieben, die geschätzten Herren und Damen Mitarbeiter, welche sonst in diesen Zimmern arbeiten? Wir sind gerade mal 18 Personen aus dem gesamten Rathaus II, die sich regelmäßig einfinden, wenn auch nicht zu den regulären Dienstzeiten. Die meisten der restlichen Kollegen haben sich alle seit dem EMP-Ereignis nicht mehr blicken lassen, als wären sie hier überhaupt nicht mehr beschäftigt.

      Wären sie bei uns, dann würden wir die Lebensmittel, die wir hoffentlich finden werden, selbstverständlich auch mit ihnen teilen. Jedoch – angesichts dieses totalen Desinteresses für den Dienst sind sie selber schuld, wenn hinterher die geliebten Gummibärchen aus der Schublade verschwunden sind!«

      Mit diesen sarkastischen Worten ließ er Selina einfach stehen und schickte sich an, das erste der insgesamt zwölf Zimmer dieses Stockwerks zu durchsuchen. »Wir treffen uns nachher mitsamt der Ausbeute in der Teeküche!« Selina blieb auf demselben Fleck wie angewurzelt stehen und schmollte trotzig.

      Vielleicht sollte ich mich etwas kürzer fassen. Mir schmerzt schon wieder der halbe Arm wegen all der vielen Schreiberei von Hand. Sooft ich früher meinen Computer verwünscht habe, weil mir das ständige Starren auf den Bildschirm und die Beantwortung der vielen täglichen E-Mails gründlich missfielen, so sehr hätte ich mir inzwischen ein funktionstüchtiges Gerät sehnlich herbeigewünscht.

      Schriebe ich jedoch meinem Arm zuliebe nicht alles so detailliert und langatmig nieder, dann würde später niemand mehr unsere Gedanken und Gefühle in dieser schwierigen Zeit nachvollziehen können.

      Ich werde besser eine kurze Pause einlegen, um mich ein bisschen zu schonen.

      *

      Der Rest meines Berichtes von diesem frostigen Montag ist schnell erzählt. Wir fanden bei der Durchsuchung sämtlicher Diensträume und Teeküchen Unmengen an Süßigkeiten, einige Getränkekästen und mehrere Packungen H-Milch. Dazu Knäckebrot, ein bisschen Obst, Kaugummi und Müsliriegel.

      In geräumigen Roll-Gitterboxen, die normalerweise für den Transport größerer Aktenmengen bereitstanden, transportierten wir diese Schätze während mehrerer Anläufe hinunter in den Tresorraum, der mittlerweile eher einem Warenlager glich. Die Anstrengung von jeweils sechs Männern war notwendig, die schweren Boxen über die Steintreppe nach unten zu bugsieren.

      Eine dieser Gitterboxen enthielt aber keine Lebensmittel, sondern andere nützliche Gegenstände. Ich hatte bei meinem Rundgang durch die Zimmer schnell begeistert festgestellt, dass einige Kollegen sich die Amtsstunden offenbar mit ein wenig Romantik, einem Mindestmaß an Ambiente versüßt hatten; neben ganz profanen Teelichtern fanden sich viele mit Aroma, dazu Windlichter mit Stumpen-Kerzen darin. Mein nächtliches Schreiben war damit erst einmal gesichert.

      Amüsiert registrierte ich, dass sich Hausmeister Klaus in einem nach seinem Glauben unbeobachteten Moment verstohlen ein Pornoheft unter die Jacke steckte. Ich kannte den Macho-Kollegen im zweiten Stock, aus dessen Einbauschrank es stammte, und wunderte mich daher über gar nichts. Wozu bezahlte Dienststunden doch für manche Leute so dienen – echt faszinierend! Zeige mir deinen Schreibtisch, und ich sage dir, wer du bist.

      Da gibt es zum Beispiel eine erklärte Tierschützerin, die das ganze Zimmer mit putzigen Hundefotos dekoriert hat und Gummiknochen in der Schublade hortet, gleich neben ihrem Stempelkissen. Oder einen Reggae-Fan, dessen Zimmer vor Bob Marley-Andenken und Postkarten aus Jamaika nur so strotzt, um ein paar Beispiele zu nennen.

      Mein eigener Schreibtisch nimmt sich da eher langweilig aus. Das einzig exotische, das er beherbergt, sind verschiedene Kaffeemischungen aus aller Welt, die ich mir bis einschließlich letzten Donnerstag mit meiner auf dem Fensterbrett geparkten Maschine je nach Lust und Laune zubereitete. Eine mir stets willkommene Abwechslung war das, zwischen der Erstellung von Bescheiden und Sprechstunden für den Bürger. Ein tolerierter Luxus, den ich mir täglich mehrmals gönnte.

      Ach, wie gerne hätte ich mir heute eine kräftige HochlandMischung aus Südamerika aufgebrüht, diejenige mit der sagenhaften »Crema« obendrauf!

      Wie auch immer, unser Fischzug war recht erfolgreich gewesen. Morgen werden wir wieder zusammenkommen, einige der Lebensmittel gemeinsam vertilgen und ernsthaft darüber sprechen, ob wir uns, gegebenenfalls mitsamt Ehepartnern und Kindern, wirklich auf Zeit in einer Art Rathaus-Camp zusammen schließen wollen, bis die Zeiten wieder besser werden. Da wird sich am morgigen Tag wohl die Spreu vom Weizen trennen. Nicht jeder ist geeignet, im Kollektiv zu leben.

      Bin ich