ist mit First-World-Problemen (etwa Kinderwunschmedizin) – gibt es nicht Wichtigeres?
−Wer soll das eigentlich alles wissenschaftlich prüfen können, mit welcher Expertise? Und wird hier nicht eher das, was die Wissenschaft selbst leisten soll („gute“ Anträge schreiben), durch die Verbesserungsvorschläge und Auflagen der Kommissionen erst vollendet?
−Hat eigentlich einmal jemand nachgeprüft, ob all das, was in den Tierversuchen erreicht werden sollte, wirklich eingetreten ist?
Schließlich habe ich allgemeine Zweifel am System der Tierversuchsüberwachung. Das Gefühl, etwas nicht Erwünschtes zu tun, habe ich erstmals, als ich im Winter 2015 Informationen zu einer Diskussion über die Tierversuchskommissionen mit allen anderen Kommissionsmitgliedern über den (damals noch offenen) Verteiler verschicke. Die Diskussion findet statt am Münchner Kompetenzzentrum Ethik (MKE), das Teil der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) ist. (Vom MKE war meines Wissens übrigens niemand in den Kommissionen.) Als von der Landesregierung per E-Mail gemahnt wird, dass „nur für die Kommissionsarbeit relevante Informationen“ geteilt werden dürfen, bin ich noch einmal erstaunt. Aber dann ärgere ich mich, dass mein Gefühl mich nicht getrogen hat. Die Behörde will tatsächlich nicht, dass man das tut: einen wirklich offenen Dialog anregen.
Bei allem Zweifel habe ich aber auch und grundsätzlich Respekt davor, wenn jemand seine Meinung ändert oder dazu zumindest bereit scheint. Das ist auch passiert. Das ist auch mir passiert. Ich würde nicht sagen, dass es besonders ausgeklügelte ethische Argumente gewesen sind, die dazu geführt haben. Insofern erscheint mir die ethische Debatte über Tierversuche auf sonderbare Weise von der Praxis entkoppelt. Diese Debatte hat die moderne Tierethik mitgeprägt, und das Thema ist seit jeher emotional stark besetzt. Es könnte nun wieder als Ausweis moralischen Fortschritts gelten, dass sich die Sichtweise, dass Tiere zweifellos für jedweden menschlichen Zweck in Versuchen eingesetzt werden dürfen, erübrigt zu haben scheint. Allerdings gibt es niemanden – keine Ethikerin, aber auch keine Wissenschaftlerin oder Fachgesellschaft –, der oder die eine prinzipielle moralische Sorglosigkeit im Umgang mit Tieren an den Tag legen würde.12 Ob dem so ist, weil das mittlerweile in Europa schlicht strafbar wäre, oder nicht, sei dahingestellt. Tatsächlich dominieren Diskussionen über Güterabwägungen und vorgebliche Dilemmata einerseits und Forderungen nach der kompletten Abschaffung von Tierversuchen andererseits. Die wissenschaftliche Praxis hingegen wird dominiert von dem Prinzip der 3R, bei dem es um den Ersatz von Tieren (replacement), die Reduktion von Tierzahlen (reduction) und die Verfeinerung von Versuchsmethoden (refinement) geht. Dazu später mehr.
Hier ist nur wichtig zu sagen, dass wir für die genuin ethischen Fragen in der Kommissionsarbeit keine Zeit hatten. Wenn sich in den Sitzungen Meinungen ein Stück weit zu verändern schienen oder Fragen akzeptiert wurden, dann hatte das meistens mehr damit zu tun, dass genau hingeschaut wurde, auch und gerade in Bezug auf die Empirie, dass Fragen gestellt wurden und Zweifel artikuliert, die zeigten, dass es um mehr als diese 3R geht. Klar ist aber: Ich habe in diesen Kommissionen mit meiner Arbeit nicht viel bewirken können, schon gar nicht als Ethikerin.13 Über die laut TierSchVersV angenommene Voraussetzung von Kenntnissen über den intrinsischen Wert des Lebens und von ethischen Argumentationen bei allen, die Tierversuche planen, durchführen oder für sie töten, kann ich, auch eingedenk der Vielfalt der akademischen Ethik, nur staunen.
Vier Jahre später: Die Sonne scheint erneut in mein Münchner Büro und ich bereite zusammen mit zwei Kolleginnen aus Veterinärmedizin und Kognitionswissenschaft einen Workshop zum Thema Tierversuche vor, wieder am MKE. Es soll auch darum gehen, wie der (gesetzlich übrigens angestrebte) Paradigmenwechsel, völlig auf sie zu verzichten, umgesetzt werden kann. Meines Wissens arbeitet von den Kolleginnen an der LMU immer noch niemand in den Kommissionen mit, und in dort stattfindenden öffentlichen Vorträgen wird „der Veganer“ (dazu gleich mehr) gerne als Beispiel für zeitgenössischen Moralismus eingeführt und abgestempelt. Aber der Geschäftsführer des MKE bietet mir zumindest immer wieder kollegial an, über Tierversuchsthemen zu diskutieren. Tierethik als ein in der Philosophie marginalisiertes Fach ist auch auf solch ein Extra-Engagement angewiesen. Aber so bin ich guter Dinge. Ich glaube daran, dass sich der Diskurs vernünftig voranbringen lässt, und bin mittlerweile zu der Ansicht gekommen, dass man lange noch gar nicht über Ethik sprechen muss, um Tierversuche problematisch zu finden. Allein aus wissenschaftlicher Perspektive kommen da viele Zweifel auf. Ich habe die Hoffnung, dass der Workshop eine sehr gute Veranstaltung wird, weil wir kompetente Leute im Programm haben und sich überwiegend Veterinärmediziner*innen, Forscher*innen usw. angemeldet haben. Bei der aufgeheizten Debatte, die im Hintergrund stattfindet, könnte uns auch Angst und Bange werden, dass die Veranstaltung aus dem Ruder läuft. Aber das glaube ich nicht. Ich traue uns zu, dass wir einen von wechselseitigem Respekt geprägten Diskurs führen werden, und ich empfinde es auch schlicht nicht so, als stünden die Diskursteilnehmer*innen grundsätzlich auf verschiedenen Seiten.
Selbstverständlich sind „wir“ (vom Tierschutz? für die Tiere? Zweifelnden?) für gute Wissenschaft. Selbstverständlich sind „die“ (vom Tierverbrauch? gegen die Tiere? Überzeugten?) für Ethik. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Großbegriffen ist aber denkbar schlecht bestimmt und so muss man, so denke ich, lange und detailliert miteinander über spezifische Probleme reden und sich nicht in Gemeinplätzen und wohlfeilen Slogans verlieren. Bei den Problemen handelt es sich um die Fragen, wie Wissenschaft funktioniert und wie Ethik dazu passt – uralte Themen für den Pragmatismus. Für einen Moment bin ich regelrecht beseelt und denke, wir werden die Zweifel auf allen Seiten nach allen Regeln der Kunst bzw. unter Einhaltung der empfohlenen intellektuellen Tugenden klären können. Zu diesen Tugenden zählt zumindest der Glaube daran, dass ein gemeinschaftlicher, methodischer, ergebnisoffener und redlicher Austausch wirklich belastbare Ergebnisse zeitigen kann. Ein Grund, aus dem bei dem Workshop nicht alle Zweifel geklärt werden konnten und ich jetzt doch auch zum Beispiel dieses Buch schreibe, liegt darin, dass ich das Politische an der Debatte vergessen hatte, die Wissenschaftspolitik, um genauer zu sein.
Kurz vor der Tagung schickt mir jemand den Link zu einem Mitschnitt einer Veranstaltung der European Animal Research Association (EARA) am Max-Delbrück-Centrum.14 Es sollte darum gehen, wie die Offenheit im Umgang mit Tierversuchen in Deutschland verbessert werden kann. Bei der Veranstaltung wurden tierverbrauchende Forscher*innen dazu beraten, wie sie mit Kritik umgehen können, einer Kritik, die immerhin zunehmend geäußert wird.15 Für jemanden wie mich, die Emotionen in der Erkenntnis ernst nimmt, ist es – ich kann das nicht anders sagen – zutiefst beunruhigend, wenn ein instrumenteller Umgang damit expressis verbis empfohlen wird, um die Emotionen der Bevölkerung ohne eine offene und vor allem faire Debatte zu beeinflussen. In seinem Vortrag „An emotional affair. Animal research and journalism“ schildert Volker Stollorz, der CEO des Science Media Center (SMC), wie etwa ein Laie, der mit einem Hund lebt, Empathie für Laborhunde entwickeln könnte, und erklärt dann: „Ich glaube, es ist sehr wirkungsvoll […], wenn man den Leuten erzählt, was man fühlte, als man anfing, Tierversuche zu machen. Dass man vielleicht auch Probleme damit hat, aber damit angefangen hat, weil man wusste, dass es für das Eexperiment notwendig ist, es zu tun; das ist sehr glaubwürdig.“ Man solle lieber verschweigen, wenn man während der Versuche Musik hört. Die Implikation ist an dieser Stelle wohl auch, dass solch eine Art „laienhafte“ Empathie klarerweise fehl am Platz sei.
Bei so einem Kommentar mag es sich um einen vergleichsweise zynischen Ausrutscher eines Funktionärs handeln, der einfach im Eifer des Gefechts vergessen hat, dass der Paradigmenwechsel weg vom Tierversuch vom Gesetzgeber gewünscht ist und dass damit die – zu Recht! – kritische oder zumindest skeptische Bevölkerung in Bezug auf dieses Thema auf einem guten Weg ist. Gleichzeitig gibt es eine ganze Reihe von „Charmeoffensiven“ der Wissenschaft, welche die breitere Bevölkerung und dabei auch und besonders junge Leute früh „für das System“ gewinnen möchten.
Dabei sind viele Menschen, die (noch) Tierversuche durchführen müssen, meinem Eindruck nach vielfach nicht so dogmatisch. So haben mir die Rückmeldungen zu besagtem Workshop Recht gegeben oder zumindest Grund zur Hoffnung. Insbesondere der offene und respektvolle Umgang miteinander und das hohe Niveau der Diskussionen wurden gelobt. Es ist schlicht nicht richtig, dass die Kritik an Tierversuchen primär von emotional