Thomas Wünsch
Der weiße Adler
Die Geschichte Polens vom 10. Jahrhundert bis heute
»Polen besteht aufgrund seiner Anarchie.«
Krzysztof Opaliński (1611–1655)
»Zwei Dinge imponieren den Außenstehenden bei uns immer: jedes Anzeichen der Anarchie und jedes Anzeichen der Disziplin.«
Adolf Nowaczyński (1876–1944)
Inhalt
Ursprungsmythen als Vorgeschichte
Christianisierung und frühe Reichsbildung
Deutsche Ostkolonisation und kultureller Wandel
Fokus: Heiligenkult und nationale Identität
Exkurs: Polens Westgrenze – Schlesien, Pommern, Preußen
Außenpolitik zwischen dem Moskauer Reich und dem Habsburgerreich
Katholische Kirche, Reformation und Multikonfessionalität
Fokus: Konziliaristen und Humanisten
Exkurs: Polens Ostgrenze – Rotreußen / Ruthenien
Der Unionsstaat und die Zeit der Wasa-Könige
Die Gefährdung der »Adelsrepublik«: Kosaken, Schweden, Osmanen
»Magnatenoligarchie« und »Sachsenzeit«
Fokus: Der polnische Adel und der Sarmatismus
Österreichisches Teilungsgebiet
Fokus: Deutsche Polenbegeisterung und Polenfeindschaft
5 Polen im 20. und 21. Jahrhundert
Fokus: Alte und neue »polnische Legenden«
Vorwort
Das hier als Auftakt verwendete Bonmot des Politikers und Dichters Krzysztof Opaliński aus dem 17. Jahrhundert erklärt eine verfassungsmäßige Erscheinung zum Wesensmerkmal Polens. Gemeint ist die Staatsform, die auswärtigen Beobachtern merkwürdig vorkam, möglicherweise auch den Bewohnern des Staates selbst. Sie zeichnete sich dadurch aus, dass sie, im Gegensatz zu den Formen der meisten anderen europäischen Staaten der Zeit, relativ schwach zentralistisch und alles andere als absolutistisch war. Deshalb erscheint es auch statthaft, statt des deutschen Wortes »Unordnung« den klassischen staatsrechtlichen Begriff der »Anarchie« als Verständnishilfe zu benutzen. Wenn nun gesagt wird, Polen bestünde aufgrund seiner Unordnung oder Anarchie (poln. nierządem Polska stoi), und nicht etwa trotz dieser, dann äußert sich darin zweierlei: Verwunderung, die beim Blick von außen durchaus angebracht war; und ein Schuss Sarkasmus, der den Bewohnern dieses so fremdartig aussehenden Staatswesens nicht fremd gewesen sein dürfte. Die Spannung aus dieser doppelten Wahrnehmung spiegelt auch, in umgekehrter Gewichtung, die Sentenz des Satirikers und Pamphletisten Adolf Nowaczyński aus dem Jahr 1904: Hier wird die Tatsache verarbeitet, dass Polen als Staat nicht mehr existierte, und das Ausland mal die Schwäche, mal die Stärke Polens zum Anlass nahm, um in die Geschicke des Landes auf unfreundliche Weise einzugreifen.
Die Mischung von Respekt einerseits und Unverständnis andererseits gegenüber der Geschichte und Gegenwart Polens scheint ein durchgehendes Merkmal der Bewertung von außen zu sein. In Polen selbst haben sich kritische Selbstsicht, oft gepaart mit Ironie und Witz, zu einem Markenzeichen der intellektuellen Kultur, gerade auch der politischen, entwickelt. Vielleicht hängt es mit dem europäischen Sonderfall einer adeligen Republik im Format der Monarchie zusammen, dass Staatslehre und politische Wissenschaften in Polen besonders systematisch und auf internationalem Niveau gepflegt wurden; der Reigen illustrer polnischer Denker hebt an mit Paulus Wladimiri (Paweł Włodkowic) zu Beginn des 15. Jahrhunderts,