habe (Lubus an der mittleren Oder und Lublin im heutigen Ostpolen). Als Caesar später ihre Mitgift (Bayern) zurückforderte, wurde sie von Lestko verstoßen – was nicht verhinderte, dass ihr gemeinsamer Sohn Pompilius von seinem Vater nach dem Recht der Primogenitur (iure primogeniture), d. h. als Alleinerbe in der Position des Erstgeborenen, zum König eingesetzt wurde. Von dessen politischen Aktivitäten sind wiederum (auffälligerweise) nur Maßnahmen zur Herrschaftssicherung und Nachfolgeregelung bekannt; allerdings erfolgreiche: Denn Pompilius erreichte, dass sein noch junger Sohn als Thronfolger von seinen 20 Halbbrüdern akzeptiert wurde. Dieser Pompilius II. aber bildet gewissermaßen den narrativen Kontrapunkt zu seinen Ahnherrn namens Lestko: Mithilfe einer List ließ er seine Rivalen bei seinem eigenen, fingierten Totenmahl vergiften und starb selbst auf grausame Weise, als ihn die Mäuse, die aus den (nicht bestatteten) Leichen der ermordeten Halbonkel kamen, bis zu einem hohen Turm verfolgten und dort zusammen mit seiner Ehefrau und zwei Söhnen zu Tode bissen.
Lässt man die aktuellen politischen Bezüge auf die Frage der Herrschaftsweitergabe und die persönliche Eignung von Herrschern beiseite, die Vincentius Kadłubek in diese Legenden aus einer heroischen (schriftlosen) Frühzeit über die drei Lestko und die beiden Pompilius/Popiel eingebaut hat, dann sticht die Funktion eines mythischen Zeitsprungs ins Auge. Die Herstellung einer zeitlichen Verbindung zur (römischen) Antike war angesichts der unabweisbaren Tatsache, dass die slawischen Länder nie Teil des Römischen Imperiums gewesen waren, gewagt. Der Autor ging dieses Risiko der Unglaubwürdigkeit ein, um ein Defizit zu beseitigen, das offenkundig geworden war: die mangelnde Verbindung zu einer historischen Vorstufe, die bei den Staaten westlich von Polen oder in Byzanz gegeben war, und deren Fehlen als negativ verbucht wurde. Die Kombination aus einheimischen Herrschern, die niemand kennen konnte, und allbekannten antiken Persönlichkeiten sollte den Brückenschlag in eine Zeit herstellen, die als notwendige historische Entwicklungsstufe gesehen wurde. Kadłubek kannte die klassische Literatur wenigstens teilweise, und das versetzte ihn in die Lage, eine Schicht des historischen Geschehens nachzutragen, die man vermisste – und derer man sich zugleich für würdig befand. Militärische Siege über Alexander den Großen, Caesar und Crassus sind dabei nur das erzählerische Vehikel, mit dem sich die Leistung der eigenen Heerführer demonstrieren lässt. Es ist eine symbolische Leistungsschau, die man auch ganz anders ausdrücken könnte, die aber im Verständnis der Zeit so wohl den größten Respekt hervorrufen konnte. Als das tragende Scharnier der Legenden erweist sich dabei eine Frau: Caesars Schwester. Sie stellt nicht nur die entscheidende dynastische Verbindung zu Popiel I. her, repräsentiert also einen Zusammenhalt über die engen Familiengrenzen hinaus im Sinne einer längerfristigen Sicherung der Zentralmacht. Sie war es auch, die kulturstiftend wirkte, als sie zwei Städte gründete. Stadtgründung ist in dieser Zeit das Instrument von Landesentwicklung schlechthin, und es stellt auch eine Parallele her zum böhmischen Fall: Dort hatte, wie der Geschichtsschreiber Cosmas von Prag († 1125) ebenfalls in einer eingeschobenen Episode zur Frühzeit Böhmens berichtet, die ehemalige Richterin Libuše zusammen mit dem von ihr erwählten Gemahl Přemysl die Hauptstadt Prag gegründet.
Kadłubek bewältigte mit seiner Erzählung der Vorgeschichte Polens eine doppelte Aufgabe: Zum einen ergänzte er die fehlende Epoche der antiken Geschichte Polens; zum anderen gliederte er Polen nun – im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts – in eine allgemeineuropäische »Normalgeschichte« ein. Damit stellte er das Land, das von seiner Entwicklung her zweifellos dem »Jüngeren Europa« angehörte, gleichberechtigt auf die Stufe der Länder des »Älteren Europa«. Das Heilige Römische Reich war sicherlich der direkte Bezugspunkt, aber es ging auch um den Nachweis, dass man mit der römischen Antike eine gemeinsame Frühzeit besaß. Polen war kulturgeschichtlich an »Europa« assoziiert.
Christianisierung und frühe Reichsbildung
Die in den Ursprungsmythen verarbeiteten Entwicklungen vor der Christianisierung Polens geben die Richtung an, in die eine Betrachtung der mittelalterlichen Geschichte Polens gehen kann. Dabei ist die Phase vor der Mission keineswegs bedeutungslos. Ein durchgängiges Manko ist aber, dass wir nur spärliche schriftliche Nachrichten besitzen (etwa von karolingischen und sächsischen Chronisten), und die zu Hilfe gezogenen Beiträge der Archäologen und Linguisten widersprüchlich interpretiert werden können. Versucht man, die wenigen gesicherten Kenntnisse zusammenzufassen, ergibt sich folgendes Bild: Für das polnische Kerngebiet sind die Stämme der Goplanen im östlichen Großpolen, der Wislanen am Oberlauf der Weichsel und der Lendzice an der mittleren Weichsel zu nennen. Immer wieder bereitet es der Forschung Probleme, dass gerade derjenige Stamm, der später dem ganzen Volk seinen Namen gab, die Polanen, erst im frühen 11. Jahrhundert belegt sind. Nach ihren Zentren um Posen und Gnesen gilt das ganze Gebiet als Zentrum des ersten polnischen Staates; Gnesen fungiert also gewissermaßen als »erste Hauptstadt Polens«. Der Stamm der Masowier begegnet erst Ende des 11. Jahrhunderts in der russischen Nestorchronik. Von Nordosten, wo sich die baltischen Stämme der Pruzzen befanden, drohte die größte Gefährdung des Staatsgebiets. Es ist kein Zufall, dass der Deutsche Orden später gerade zur Missionierung und Unterwerfung dieser Völkerschaften ins Land geholt wurde.
Zunächst ging es bei der im frühen Mittelalter üblichen Vermischung von Mission und Politik aber darum, den richtigen Partner auszuwählen. Das Kunststück bestand überall darin, einen mächtigen Verbündeten zu gewinnen, ohne selbst alle Autonomie einzubüßen. Im Fall Polens stellte sich das so dar, dass der erste historisch gut fassbare Herrscher, der Piastenherzog Mieszko I. (reg. ca. 960–992), zwar im Jahr 966 (oder 965) die Taufe seines Herrschaftsbereiches vollzog, die Hilfe von den deutschen Nachbarn gegen Konkurrenten auch gern annahm, bei alledem aber darauf bedacht blieb, dass seine junge christliche Kirche nicht in die Reichskirche einbezogen wurde. Als erster Bischof des im Jahr 968 gegründeten ersten Bistums auf polnischem Boden firmierte denn auch kein Pole, sondern ein aus Böhmen stammender Missionsbischof namens Jordan. Er regierte bis 984 und war dem Papst direkt unterstellt. Doch war das nicht genug, um eine Unabhängigkeit in kirchlicher und weltlicher Sphäre zu garantieren; im Hintergrund stand das Erzbistum Magdeburg, das von den sächsischen Kaisern explizit als Missionsbistum gen Osten konzipiert war, und das sich nicht ganz unberechtigte Hoffnungen machte, Posen (und damit die ganze polnische Kirche) integrieren zu können. Mieszko, der von dem Chronisten Widukind von Corvey als amicus imperatoris (»Freund des Kaisers«) bezeichnet wird, nach Auskunft des Geschichtsschreibers Thietmar von Merseburg aber dem Kaiser bis zum Fluss Warthe tributpflichtig war, machte deshalb kurz vor seinem Tod einen geschickten Schachzug, indem er sein Land samt der Herrscherfamilie dem heiligen Petrus (in Gestalt des Papstes) übereignete. Dieser im sogenannten Dagome-iudex-Regest überlieferte Rechtsakt war nicht nur die erste Schenkung eines ganzen Staatswesens an den Heiligen Stuhl; sie hatte darüber hinaus für Polen weitreichende Auswirkungen. Der Eintritt Mieszkos in die christliche »Familie der Könige«, einem informellen Verbund der europäischen Dynastien, gestaltete sich so von Anfang an auf der Augenhöhe der anderen christlichen Staaten, denn die Abhängigkeit von Rom war eine rein formale, ohne realpolitische Folgen. Gegenüber der imperialen Kirchenpolitik aus dem Römisch-deutschen Reich jedoch hatte der erste polnische Herrscher seine Kirche und seinen Staat gewappnet – auch wenn die Mehrzahl der Kleriker in Polen noch bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts aus den Provinzen des deutschen Reichs kommen sollte.
Was in dieser Konstruktion einer kirchlich-staatlichen Autonomie noch fehlte, war die Organisation der polnischen Kirche in der Gestalt eines Erzbistums. Nur in dieser Form war im frühen Mittelalter auch eine volle staatliche Souveränität möglich, und die beiden aufstrebenden Staatswesen im Osten des Römisch-deutschen Reichs, Polen und Ungarn, nutzten dieses Machtmittel zur gleichen Zeit. In Polen war es der Sohn und Nachfolger Herzog Mieszkos, Bolesław I. Chrobry (»der Tapfere«, reg. 992–1025), der den entscheidenden Schritt zur kirchlich-staatlichen Emanzipation von seinem westlichen Nachbarn gehen konnte. Unterstützung bekam er dabei von einem Toten: Es war der Märtyrertod des in Pommern missionierenden böhmischen Adeligen Adalbert, der den Weg zu einem eigenen polnischen Erzbistum ebnete. Sowohl der Kaiser (Otto III.) wie der Papst (Silvester II.) verehrten den bei den Pruzzen 997 umgekommenen Missionsbischof, und der Kaiser selbst machte sich auf zu einer Pilgerfahrt, um dem inzwischen kanonisierten und in Gnesen bestatteten Freund seine Ehre zu erweisen. Es war dies die einzige friedliche Fahrt, die je ein Kaiser Richtung