Thomas Wünsch

Der weiße Adler


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sei der Band meinen beiden Regensburger Lehrern Ekkehard Völkl (†) und Heinz Kneip, die mir die Welt der polnischen Sprache, Literatur und Geschichte eröffnet haben.

      Passau, im Februar 2019

      Zur Aussprache des polnischen Alphabets

      Das Polnische besitzt einen festen Wortakzent, der auf der vorletzten Silbe liegt.

      Besonderheiten in der Aussprache:

      ą = wie franz. Bonbon

      ę = wie franz. Cousin

       ó = u

      y = wie dt. schwimmen

      ł = wie engl. water

      ń, ni = wie franz. Bretagne

      s = stimmlos (wie dt. Maske)

      z = stimmhaft (wie dt. Rasen)

      sz = sch

      ś, si = wie dt. Bücher

       cz = tsch

      ć, ci = wie dt. Mädchen

      rz, ż = wie franz. Journal

      ź = wie dt. mich

      st = s + t

      ie = i + e

      eu = e + u

      ei = e + i

      ck = tsk

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      »Er hat das Ansehen und die Stärke des Königreichs so vermehrt, dass er durch seine Leistung ganz Polen vergoldet hat.«

       Der Chronist Gallus Anonymus über den ersten polnischen König Bolesław I. Chrobry (992–1025)

       1 Das piastische Polen

      Ursprungsmythen als Vorgeschichte

      Ursprungsmythen sind mehr als nur Fabeln und Märchen. Sie verweisen in Gestalt von Sagen, Erzählungen oder Legenden auf die ältesten Formen eines Staates oder einer Gemeinschaft. Damit transportieren sie mündlich überliefertes Wissen, das jedoch meist nicht direkt verwertbar ist. Die starke poetische Qualität der Ursprungsmythen lassen sie mehr als Metaphern für eine bestimmte Interpretation von (Ur-)Geschichte vor dem Auftauchen schriftlicher Quellen erscheinen, denn als empirisch abgestützter Bericht darüber. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der solche Ursprungsmythen für die moderne Forschung immer wieder zum Rätsel hat werden lassen: die relativ späte schriftliche Aufzeichnung. Bei allen ostmitteleuropäischen Ländern – sowohl in Polen als auch in Böhmen und Ungarn – sind die Ursprungsmythen eng mit der Nationalgeschichtsschreibung verbunden. Das bedeutet aber, dass der Abstand zwischen der erzählten Zeit und der schriftlichen Fixierung oft Jahrhunderte beträgt. Erfindungen sind nicht ausgeschlossen, genauso wenig wie zielgerichtete rhetorische Manöver zur Begründung oder Rechtfertigung der jeweils gegenwärtigen Herrschaftskonstellationen oder gar aktueller Politik.

      Was solche Mythen trotzdem interessant macht, ist der Umstand, dass sie zugleich ein zeitliches und ein legitimatorisches Vakuum überbrücken. Zunächst einmal geht es im Fall Polens, wie bei den anderen ostmitteleuropäischen Staaten, um die Lücke zwischen einer anzunehmenden Existenz einer strukturierten Gemeinschaft und ihrer ersten Erwähnung. Die Bezeichnungen Polani oder Poloni begegnen erst um das Jahr 1000 in den Quellen, während die frühpiastische Herrschaftsbildung schon an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert anzusetzen ist. Das Bedürfnis, ein Geschehen aufzuhellen, das in schriftloses Dunkel gehüllt ist, steckt als Motor sehr deutlich hinter den späteren Ursprungsmythen. Hinzu kommt aber noch ein anderes Bedürfnis, das umso drängender wurde, je intensiver die Kontakte zwischen der staatlichen Gemeinschaft und seinem außenpolitischen Umfeld wurden: die eigene Herkunft durch die Aufnahme hochgeschätzter Persönlichkeiten in die eigene (Vor-)Geschichte an den Status der anderen Staaten anzupassen.

      Der Meister in diesem Fach war der erste aus Polen stammende Geschichtsschreiber, Vincentius Magister, gen. Kadłubek (geboren um 1160, gestorben 1223). Er kam vermutlich aus einer kleinpolnischen Ritterfamilie, hielt sich zu Studienzwecken in Paris und vielleicht Bologna auf, war am Hof von Herzog Kazimierz II. Sprawiedliwy (»dem Gerechten«, 1138–1194) in Krakau tätig, wurde dann Propst in Sandomierz und für zehn Jahre Bischof von Krakau, und beschloss seine Tage als Zisterziensermönch. Seine Chronica Polonorum schrieb er seit den 1190er-Jahren nieder, und ihr Erfolg war überwältigend: 32 mittelalterliche Handschriften sind bekannt, die zwar mehrheitlich erst aus dem 15. Jahrhundert datieren, aber doch insgesamt eine große Wirkung in Polen signalisieren. Das Werk des Vincentius Kadłubek wurde offensichtlich auf Bitten des Herzogs von Polen abgefasst, und es ist aufschlussreich, dass gerade in der Umgebung dieses Herrschers ein Bedürfnis nach einer umfassenden Nationalgeschichte entstand – analog zur Geschichtsschreibung der anderen europäischen Nationen des Hochmittelalters. Kazimierz II. war seit 1177 Seniorherzog von Polen und der politisch wohl aktivste polnische Herzog seiner Zeit, besonders an den nördlichen und östlichen Grenzen seines Herrschaftsgebiets. Daneben engagierte er sich für eine Verfassungsreform, als er das Senioratsprinzip aufheben ließ, das eine Erbteilung im ganzen Fürstenhaus unter dem Vorrang eines Seniors vorsah. Dieser politische Hintergrund macht es verständlich, dass Kadłubeks Chronik nicht nur als historiografischer Text gelesen und rezipiert wurde. Sie wurde auch als staats- und kirchenpolitischer Traktat verstanden, und ihre historiografische Konzeption förderte einen Patriotismus und ein gemeinschaftliches Bewusstsein, das die politische Unabhängigkeit vom Römisch-deutschen Reich beinhaltete.

      Ein Mittel dafür ist die Stilisierung einer heroischen Vorzeit, die Kadłubek unter Verwendung älterer Vorlagen durchführt. Das erste Buch der Chronik Kadłubeks, um das es hier insbesondere geht, erzählt aber weder eine zusammenhängende Geschichte, noch erhebt es Anspruch auf die Nachzeichnung eines historischen Ablaufs; es ist episodenartig aufgebaut und gehorcht nur in Teilen der Chronologie. Im Zentrum stehen die Erzählungen zu drei Herrschern namens Lestko und zweien mit Namen Pompilius (Popiel). Die erste Erzählung berichtet von einer Auseinandersetzung der Polen mit Alexander dem Großen, bei der die Polen den Gesandten Alexanders, die von ihnen Tribute forderten, bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen und diese mit Gold und Seetang gefüllt hatten. Alexander rückte nun mit einem Heer nach Polen ein, eroberte Krakau und stand kurz vor der Unterwerfung des ganzen Volkes, als ein listiger Goldschmied die Truppen Alexanders in die Falle lockte, und diese in so heillose Verwirrung gerieten, dass ihre Niederlage besiegelt war. Um die Wahrheit dieser Geschichte zu belegen, führt Kadłubek einen (imaginären) Briefwechsel zwischen Alexander und Aristoteles an, in dem eine als »Krakau« deutbare Stadt Carauca genannt wird; der Kontext der europäischen Aristoteles-Rezeption des Hochmittelalters ist damit hergestellt. Der Goldschmied selbst wurde als Dank zum patriae princeps (»Führer des Vaterlandes«) und später zum König ernannt. Sein Name Lestco ist etymologisch motiviert und leitet sich her von astutus (»schlau, listig«), womit auf den Erfolg seiner Kriegslist angespielt wird. Diese Erzählung Kadłubeks kehrt in allen späteren chronikalischen Werken wieder. Will man für die Rekonstruktion der Geschichte daraus Funken schlagen, dann kann man die Alexander-Episode auch als Reflex auf die zeitweilige mährische Kontrolle über Schlesien und das Krakauer Gebiet lesen. Mit einigem guten Willen lässt sich dafür auch insofern eine Stütze finden, als eine semantische Entsprechung der Namen »Alexander« und »Svatopluk« (für den Herrscher des Großmährischen Reichs Ende des 9. Jahrhunderts) möglich ist.

      Nach einem weiteren polnischen König, der sich Lestko II. nannte, folgte dessen Sohn auf dem Thron, Lestko III. – und auch mit seinem Namen verbindet sich in Kadłubeks Darstellung ein Mythos. Er habe Julius Caesar drei Niederlagen zugefügt und das von Crassus geführte Heer beim Krieg mit den Parthern,