unterscheiden. Um diesen Effekt zu erreichen, genügen für eine normale Sprechstimme am Telefon 8.000 Abtastungen pro Sekunde; bei deutlich höheren Frequenzen, z.B. bei Musik, erhöhen wir die Abtastfrequenz entsprechend; das ist technisch überhaupt kein Problem. Im Übrigen sorgt im Empfangsgerät ein Kondensator dafür, dass die zwischen den Abtastungen real vorhandenen Lücken überbrückt werden und so der Eindruck eines durchgehenden Klangs erzeugt wird.
Mag die Klangqualität auch noch so echt erscheinen, so ist doch nicht zu leugnen, dass es sich um eine bewusst herbeigeführte Illusion handelt. Folglich ist die Frage erlaubt, was dieser Umstand auf Dauer im Menschen bewirkt. Aber die Frage wird kaum je gestellt geschweige denn untersucht. Das Publikum nimmt die Illusion wie selbstverständlich hin und erfreut sich daran, nicht anders als beim Kinofilm, der dem Auge durch die schnelle Abfolge von Momentaufnahmen eine flüssig strömende Bewegung vorgaukelt, die nicht vorhanden ist.
Das digitale Verfahren wird auch für optische Aufzeichnungen eingesetzt, stark abweichend vom natürlichen Sehen. Die Augen des Menschen nehmen jedes Objekt und jede Landschaft, die sich ihnen darbietet, als eine in sich konsistente Ganzheit wahr, über die die Blicke nach Belieben schweifen können. Die klassische Fotografie fixiert den momentanen Eindruck in Form eines Bildes, das immer noch eine in sich geschlossene Einheit darstellt. Die Digitalkamera hingegen kann mit dieser Ganzheit nichts anfangen. Sie bemächtigt sich des optischen Eindrucks in der Weise, dass sie das mit der Linse eingefangene Bild in Abertausende kleine Splitter zerlegt.
Genauer gesagt überzieht sie das Bild mit einem Raster aus winzigen Messpunkten, die in ungeheurer Geschwindigkeit nach Lichtstärke, Farbe usw. abgetastet werden. Die Messergebnisse gelangen binär codiert in den Computer, der dann auf dem Screen das ursprüngliche Bild Punkt für Punkt wieder aufbaut und so die Wirklichkeit gerastert vor Augen rückt (ähnlich den Bildern aus der Druckerpresse) – mit dem Anspruch, die Wirklichkeit exakt reproduziert zu haben. Dass sie in Wahrheit fragmentiert ist in Einzelpunkte, sieht jeder, der mit einer starken Lupe an den Screen heranrückt.
Das geheime Potenzial digitaler Reproduktionen
Wäre das Ziel der Digitaltechnik lediglich dieses, möglichst perfekt den Anschein echter Wirklichkeit zu erzeugen, dann wäre sie nichts weiter als eine Alternative zu den längst vorhandenen Reproduktionstechniken, von denen Film und Fernsehen, Radio und Grammophon erfolgreich Gebrauch machten; sie wäre keine besondere Attraktion. Ihr eigentlicher Reiz jedoch liegt in der Tatsache, dass sie die sichtbare und hörbare Realität verwandelt in elektronische Daten, die durch den Computer gehen, ehe aus ihnen die Abbilder generiert werden. Und das bedeutet: Der Mensch bekommt am Computer eine Verfügungsgewalt über den Wiederaufbau des Bildes, den er bei den herkömmlichen Verfahren nicht oder nur in sehr geringem Maße hatte. Er kann die Daten unverändert so weiterleiten, wie sie eingegangen sind; er kann sie aber auch, wenn er das möchte, nach Belieben verändern, indem er in den binären Code der Einzeldaten eingreift und die Zahlwerte ein wenig erhöht oder verringert. In der Masse Abertausender Rasterpunkte fallen solche Eingriffe nicht als Verfälschung auf, vielmehr bleibt der Eindruck eines echten Bildes weiterhin bestehen.
Praktisch gesprochen: Man kann Bilder unbemerkt manipulieren, kann Farben und Kontraste verändern, kann missliebige Objekte herausschneiden oder neue hineinbringen, die im Original gar nicht vorhanden waren, kann Gesichter verändern usw. Das dient oft nur dem «Aufhübschen» der Bilder, kann aber auch in böswilliger oder betrügerischer Absicht geschehen. Ebenso bei digitalen Sprach- und Musikaufnahmen: Störgeräusche kann man löschen, einzelne Orchesterstimmen hervorheben oder abschwächen, den Klang eines Instruments schärfer oder weicher machen, die Stimme des Sängers mit Halleffekt versehen usw. Die Zeit ist endgültig vorbei, in der Filme und Tonaufnahmen als ein getreuer Spiegel der Wirklichkeit gelten konnten. Fotos in der Presse oder im Fernsehen beweisen keineswegs mehr unwiderleglich, «wie es wirklich war». Überall ist mit der Möglichkeit einer Fälschung zu rechnen, sodass man seinen Augen und Ohren buchstäblich nicht mehr trauen kann.
Was sich für Fälschungen aller Art verwenden lässt, ist andererseits aber auch geeignet zum Aufbau einer virtuellen Realität, also zu Szenarien, in denen nichts mehr das Abbild einer äußeren Wirklichkeit ist, sondern alles von Anfang bis Ende am Computer konstruiert wurde. Architekten beispielsweise können das künftige Haus schon detailgetreu auf dem Bildschirm erscheinen lassen, von allen Seiten betrachtbar, ja sogar in den Innenräumen begehbar – und vor allem: jederzeit nach Wunsch veränderbar, bevor man es gebaut und eingerichtet hat. Jeder wird darin einen großen Nutzen sehen.
Wie ist es aber, wenn virtuelle Räume für Computerspiele aufgebaut werden, in denen Monster oder Aliens, Krieger von fremden Sternen, Zauberer und Hexen bekämpft werden können oder in denen monströse Kriegsszenen die Sinne gefangen nehmen, Spiele, in denen der Spieler mit einer eigenen Waffe Personen töten kann, jedwede Gewalt ausüben darf und dabei nicht die geringste menschliche Empathie zeigt, sondern nur die Sucht nach Punktegewinn auslebt?
Kritische Fragen
Die vorangegangenen Passagen konnten einen ersten Eindruck von den Möglichkeiten digitaler Technik vermitteln; viele weitere Bereiche sind noch zu besprechen. Doch dürfte schon deutlich geworden sein, dass wir es mit einem zweischneidigen Schwert zu tun haben: Auf der einen Seite sehen wir großartige Erfindungen, auf der anderen Seite öffnet sich zunehmend die Büchse der Pandora mit fragwürdigen oder sogar kriminellen Anwendungen, befeuert von Machtgelüsten und Allmachtsphantasien. Nicht zufällig sprachen Digital-Freaks schon vor Jahren vom «Achten Schöpfungstag», der erreicht sei, weil die Menschheit sich ab jetzt mit einer Sinneswelt umgeben könne, die nicht von Mutter Natur oder irgendwelchen Göttern erschaffen wurde, sondern vollständig des Menschen eigenes Werk sei, bis in jede Einzelheit seinem Geist entsprungen und mit höchster Intelligenz verwirklicht.
Was ist von einer solchen Auffassung zu halten? Erfüllt sich jetzt tatsächlich ein alter Menschheitstraum, den schon Prometheus träumte? Oder droht ein Menschheitswahn, der sich bitter rächen könnte? Berechtigte Fragen brechen auf:
Dürfen wir achtlos darüber hinwegsehen, dass die Sprache eines Menschen während der digitalen Übertragung abgetötet wird zu einem milliardenfachen Wechsel von «Strom an» und «Strom aus», aus dem dann ein Schallgebilde konstruiert wird, das nicht mehr eine vollmenschliche Realität darstellt, sondern ein technisches Scheingebilde, eine Art Gespenst?
Kann es uns gleichgültig sein, dass diese Technik bei Musik und Sprache wie auch bei visuellen Vorgängen von Anfang an auf Sinnestäuschung angelegt ist und wir uns schleichend daran gewöhnen, keinen Unterschied mehr zu sehen zwischen Original und Imitat?
Wohin führt es, wenn wir die Bilder von irgendwelchen Ereignissen noch immer ungeprüft als getreue Abbildungen der Wirklichkeit auffassen und in der Folge unser Urteil auf Fälschungen gründen? Wollen wir uns in einer Welt der Fake-News einrichten? Zugegeben, meistens können wir die Echtheit nicht prüfen. Aber dann müssten wir auch unser Urteil zurückhalten, uns nach anderen Quellen umschauen und die entstandenen Fragen bis zu einer möglichen Klärung offenlassen. Sind wir bereit, uns diese strenge Disziplin aufzuerlegen?
Ein sachgemäßes Urteil zu diesen und vielen weiteren Fragen wird nicht zu erreichen sein, wenn man die Digitaltechnik einfach euphorisch in den Himmel hebt und sie unkritisch als immensen Menschheitsfortschritt preist. Ebenso wenig angemessen wäre es, sie schlichtweg zu verteufeln und möglichst von sich fernzuhalten, denn sie schafft schon jetzt Realitäten, denen wir uns gar nicht mehr entziehen können. Wir müssen sie nicht um jeden Preis in jedem Detail akzeptieren; eines aber ist in jedem Falle gefordert: begründet Stellung zu beziehen, um verantwortlich handeln zu können.
Damit stehen wir vor einer Aufgabe, zu der wir uns Grundlagen verschaffen sollten, indem wir einerseits die geistesgeschichtlichen Hintergründe digitaler Technik erkunden, andererseits ihre konkreten Realisierungen kennenlernen und drittens deren soziale Auswirkungen zu beobachten versuchen. Dazu möchte dieses Buch einen bescheidenen Beitrag leisten.