Gregor Bauer

Das Übernatürliche


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mit Biologie zu befassen, um dem Rätsel des Lebens auf die Spur zu kommen: Das erschien mir so abwegig, wie sich mit der Papierqualität eines Buches zu beschäftigen, statt es zu lesen.

      Als sich gegen Ende meiner Pubertät der Glaube an einen Gott wieder durchsetzte, geschah das nicht durch logische Argumentationsfiguren, sondern durch starke Erlebnisse, die ich religiös deutete. Eines dieser Schlüsselerlebnisse entzündete sich an einem Bändchen, von dessen Umschlag mich ein gesammelter Blick durchdringend anblickte: „Ich und Du“, eine Schrift des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965).

      Das Buch aufzuschlagen und die ersten Zeilen zu lesen war eine Offenbarung. Ich war so ergriffen, dass mir gar nicht auffiel, dass Buber nicht etwa argumentierte oder begründete, sondern behauptete: So ist es. Er tat das so überzeugend, dass ich ihm unwillkürlich glaubte.

      Wie konnte das geschehen? Später dachte ich mir: Offenbar haben wir Menschen ein tiefes Bedürfnis zu glauben. Wenn wir zur richtigen Zeit und in der richtigen Weise darauf angesprochen werden, dann geben wir alle Bedenken auf und glauben, auch ohne Gründe.

      Ich fragte mich: Wie soll ich mit diesem Verlangen nach Glauben umgehen? Soll ich mich ihm überlassen, um zu Gott zu finden? Oder soll ich diesem Bedürfnis widerstehen, um keinen Wahnvorstellungen zu erliegen?

      Nach einer chaotischen Pubertät wollte ich mich neu sortieren und dabei alles richtig machen. Ich wurde sehr fromm, auf eine unnatürlich bigotte Art, wie ich es heute sehe. Überzeugt, dass ich die Existenz Gottes beweisen könne, begann ich, Philosophie zu studieren. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1787) überzeugte mich jedoch davon, dass man Gott nicht beweisen kann. Ich gewann den Eindruck, dass die Philosophie sich heute nicht mehr mit der Frage nach Gott beschäftigt, und verlor deshalb das Interesse an ihr.

      Als meine Tochter und mein Sohn heranwuchsen, erlebte ich erneut, dass in der Religion Kräfte schlummern, denen rational nur schwer beizukommen ist: Eine Sehnsucht wurde in mir übermächtig, meine Kinder in denselben katholischen Traditionen aufwachsen zu sehen, mit denen ich selbst als Kind glücklich gewesen war. Aber was mir damals Geborgenheit gegeben hatte, ließ sich nicht mehr wiederherstellen.

      Die Bindekraft religiöser Traditionen erlebte ich erneut, als ich 2016 aus dem Texter- in den Lehrberuf wechselte, um Geflüchtete in Deutsch zu unterrichten. Aber ich erfuhr auch, dass sich nicht wenige Geflüchtete von dem Glauben ihrer Vorfahren abwenden. Oft sind sie aufgebracht wegen des entmündigenden religiösen Zwangs, dem sie in ihren Heimatländern ausgesetzt waren.

      Unsere Religionsfreiheit ist äußerst attraktiv für Menschen, die das Gegenteil kennenlernen mussten. Aber wie frei sind wir wirklich in unserer Entscheidung? Bin ich durch meine Erziehung nicht viel zu stark vorgeprägt, als dass ich die Argumente der Gegenseite überhaupt noch aufnehmen könnte?

      Falls es so sein sollte, würde mein Glaube auf tönernen Füßen stehen. Deshalb wollte ich der Sache auf den Grund gehen: Schaffe ich es, die Argumente, die gegen meine Überzeugung sprechen, mindestens genauso ernst zu nehmen wie die Argumente, die mich bestätigen? Die Frage, ob es etwas Übernatürliches gibt, ist mir zu wichtig, als dass ich beiseite schieben dürfte, was dagegen spricht. Zumal wenn es von Wissenschaftlern kommt. Ob Pro oder Contra, alles muss auf den Tisch. Dieses Buch ist mein Versuch, diesem Anspruch gerecht zu werden.

       Warum glauben wir, was wir glauben?

      Mit welchen Traditionen sind Sie aufgewachsen? Wie stehen Sie heute dazu? Falls Ihre Traditionen Sie mittlerweile nicht mehr überzeugen sollten: Könnten Sie es sich leisten, mit ihnen zu brechen? Oder würden Ihre Lieben Ihnen das nicht verzeihen – sei es Ihre Familie, seien es Freunde oder Kolleginnen? Vielleicht haben Sie auch bereits zu viel für Ihre Religion geopfert, um noch an ihr zweifeln zu können?

      Falls Sie aber bereits mit Ihrer Familientradition gebrochen haben sollten: Haben Sie das wirklich? So mancher – oder manche – wechselt zwar seine Weltanschauung, bemerkt aber nicht, dass er in seiner neuen Überzeugung genauso verbissen intolerant ist wie die Autoritäten, die er meint überwunden zu haben.

      Machen wir uns nicht alle Illusionen über unsere Chancen, zu einer eigenen, rational begründeten Weltanschauung zu kommen? Zu viel steht auf dem Spiel. Nicht nur für religiöse Menschen: Auch im Atheismus kann man sich wohl fühlen und Halt finden. Dann muss man einen hohen Preis zahlen, wenn man seinen Atheismus aufgibt.

      Religiöse Menschen, die zweifeln, bekommen es mit der Angst zu tun, dass mit dem Tod alles aus sein könnte. Atheistinnen, die zweifeln, erschrecken vielleicht genauso vor dem Gegenteil: dass die Seele nach dem Tod weiterleben könnte. So oder so binden wir das Urvertrauen, ohne das wir nicht leben können, an die Weltanschauung, die uns liegt.

      Wie steht es also? Gibt es eine transzendente Dimension? Oder haben die Atheisten Recht, die diese Zuversicht für vorwissenschaftlich und überholt halten?

      Ich möchte diese Alternative etwas genauer formulieren und die Begriffe klären, die ich in diesem Buch verwenden werde:

       Um welchen Konflikt geht es?

      Auf der einen Seite stehen alle, die an die Existenz einer Seele glauben, die nach dem Tod weiterlebt, sei es mit oder ohne Wiedergeburt. Dieser Glaube geht fast immer einher mit weiteren Überzeugungen:

      •dass der Mensch einen freien Willen hat, sich also für oder gegen das Böse entscheiden kann,

      •dass die Welt und das Leben einen Sinn haben, den wir nicht willkürlich selbst setzen können,

      •dass es jenseitige Wesen gibt, wie Gott oder Engel.

      Einige dieser Menschen hängen einer Religion an, andere bezeichnen sich als spirituell, jedoch religiös ungebunden. Einige glauben als Monotheisten an einen persönlichen Gott, andere haben von der transzendenten Dimension andere Vorstellungen. Ich werde all diese Menschen gelegentlich als „Gläubige“ bezeichnen, obwohl genau genommen auch Atheisten „Gläubige“ sind: Auch Atheisten glauben etwas, nur eben etwas anderes. Mit „spirituell“ bezeichne ich Menschen, die an etwas Übernatürliches glauben, ob sie sich nun einer bestimmten Religion verpflichtet fühlen oder nicht. „Spirituell“ klingt also offener als „religiös“ und schmeckt mehr nach Freiheit, doch schließen die beiden Begriffe einander nicht aus.

      Auch Atheisten nennen sich selbst gelegentlich „spirituell“. Aber wenn ich diesen Begriff in diesem Buch verwende, dann meine ich Menschen, die an etwas Übernatürliches glauben. Statt „das Übernatürliche“ könnte ich auch sagen „das Transzendente“ oder „das Transzendentale“: Diese Begriffe haben in diesem Buch dieselbe Bedeutung.

      Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die alle religiösen und vergleichbaren spirituellen Vorstellungen ablehnen. Sie vertreten stattdessen ein Weltbild, in dem die Physik restlos alles erklärt. Gegen die erste Partei halten fast alle von ihnen fest:

      •Es gibt keine Seele. Das Bewusstsein ist vielmehr vollständig durch hirnphysiologische Prozesse erklärbar. Ein Leben nach dem Tod ist deshalb ausgeschlossen.

      •Der Mensch hat die Aufgabe und die Chance, den Sinn seines Lebens selbst zu setzen.

      •Es mag Wesen auf anderen Planeten geben, aber jenseitige Wesen und eine transzendentale Dimension gibt es nicht.

      Für diese Partei ist die Bezeichnung „Atheistinnen“ gebräuchlich. Deshalb werde ich sie auch so nennen, obwohl das etwas ungenau ist. Denn es gibt sehr wohl Menschen, die zwar an etwas Übernatürliches glauben, nicht jedoch an einen Gott. Sie gehören zur ersten Gruppe der religiös oder spirituell Orientierten. Deshalb verwende ich statt „Atheisten“ auch den präziseren Ausdruck „Naturalisten“. Naturalistinnen und Naturalisten sind überzeugt, dass alles Teil der physischen Natur ist, auch der Geist oder das Bewusstsein.

      Der Konflikt zwischen diesen beiden Weltbildern treibt mich um. Ich werde ihn darstellen, umfassend, themenübergreifend und aus wechselnden Perspektiven.

      Die Zuspitzung