Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln.
Nun also machten die neuen erdgeschichtlichen Dimensionen den Weg frei für Darwins Evolutionstheorie. Unter anderem auf einer Weltreise hatte er unzählige Belege dafür zusammengetragen: Die Lebewesen sind nicht von einem Gott fertig erschaffen worden, sondern sie haben sich unabhängig voneinander entwickelt, in unzähligen kleinen Schritten. Die verschiedenen Arten lassen sich auf gemeinsame Vorfahren zurückführen.
Darwin zögerte lange, diese neuen Ideen zu veröffentlichen. Als er sie schließlich 1859 in seinem Werk „Über die Entstehung der Arten“ ausführlich darlegte, wusste er, dass er ein gesellschaftliches Erdbeben auslösen würde. Denn nun waren die unterschiedlichen Pflanzen- und Tierarten nicht länger von einem Gott erschaffene Geschöpfe. Stattdessen waren sie ohne göttliches Zutun allein aus ihren Lebensbedingungen heraus natürlich erklärbar. Und wenn sich dies für Farne, Schildkröen und Affen zeigen ließe: Warum dann nicht auch für den Menschen?
Tatsächlich legte Darwin 1871 noch einmal nach und beschrieb auch den Menschen als ein evolutionär sich stetig weiterentwickelndes Tier, mit Vorfahren, die es mit den Affen teilte, und nahen Verwandten, die ausgestorben waren. Der Mensch, in der Bibel das Werk Gottes und der einsame Höhepunkt seiner Schöpfung, war geschrumpft zu einem Tier, dessen Entstehung rein natürlich erklärbar war.
Lars Jaeger schildert den gewaltigen Widerstand aus religiösen Kreisen gegen diese Theorie, aber auch gegen andere wissenschaftliche Erkenntnisse. Immer wieder hat die Kirche den wissenschaftlichen Fortschritt behindert, bis sie nach heftiger Gegenwehr schließlich doch einsehen musste, dass die Wissenschaft Recht hat. Stück um Stück musste sie vor der Wissenschaft zurückweichen.
Widerlegt die Biologie den Glauben an eine unsterbliche Seele?
Der Widerstand gegen Darwins Evolutionstheorie ist bis heute nicht verstummt. Im christlichen Raum sind es vor allem evangelikale Kreise, die sie nach wie vor bekämpfen. Unter Muslimen weltweit wird sie wohl mehrheitlich abgelehnt.
Die Beunruhigung über die Evolutionstheorie in konservativ-religiösen Kreisen ist berechtigter, als moderne Theologen zugeben mögen.
Viele Gläubige fragen: Folgt aus der Evolution, dass der Mensch keine Seele hat und damit auch kein ewiges Leben? Und tatsächlich wird die Evolutionstheorie von Biologinnen und Biologen sehr wohl verstanden als Angriff auf den Glauben an eine Seele und ein ewiges Leben.
Wie der Schöpfergott, so ist aus Sicht der Biologen auch die Seele ein religiöser Mythos, der der naturwissenschaftlichen Erkenntnis im Wege steht und früher oder später weichen muss. An seine Stelle treten die Erkenntnisse der Evolutionstheorie. Mit ihr wird längst nicht mehr nur die Entstehung der Arten erklärt. Sie ist auch mehr als der aussichtsreichste Kandidat für die Erklärung von Leben und Bewusstsein: Inzwischen gilt die Evolution als das umfassendste Prinzip überhaupt. Sie ist grundlegend geworden für die Erklärung des gesamten Kosmos.
An der Widerlegung des Glaubens an die Seele arbeiten heute viele Hirnforscher. Sie sind überzeugt, dass das Bewusstsein keiner übernatürlichen Erklärung bedarf, sondern ausschließlich ein Produkt physikalischer und chemischer Prozesse ist. Täglich sammeln sie mehr Erkenntnisse, die diese Hypothese bestätigen. Noch steht der Beweis aus, doch früher oder später, so sind sie überzeugt, wird er genauso kommen wie einst der Beweis der elliptischen Planetenbahnen.
Wie wird es weitergehen? Wird sich die Religion, von überholten Vorstellungen befreit, im Angesicht der Wissenschaft behaupten können? Sind nur rückständige Fundamentalismen in Gefahr, die wir vielleicht ohnehin nicht wollen? Oder wird die Wissenschaft irgendwann die Religion selbst widerlegen? Und mit ihr überhaupt jede Hoffnung auf einen transzendenten Sinn und auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod? Ist es vielleicht heute schon so weit, und es hat sich nur noch nicht überall herumgesprochen?
So weit Skizze 1. Nun zu Skizze 2: Gibt es Gründe, Religion und Spiritualität in einem positiveren Licht zu sehen?
Was hat die Religion zu ihrer Verteidigung vorzutragen?
Zurück zu den Naturphilosophen der griechischen Antike: Haben sie wirklich die Religion verworfen, um die Welt aus rein natürlichen Ursachen zu erklären?
Im Grunde lässt sich das von keinem einzigen der Vorsokratiker behaupten:
•Thales, der früheste unter den ionischen Revolutionären, bekannte, dass alles erfüllt von Göttern sei.
•Anaximander – der mit den platzenden Druckluftwolken – sah in der Natur ein religiöses Grundgesetz am Werk: das nicht menschengemachte moralische Prinzip von Schuld und Sühne.
•Xenophanes (ca. 570–475) attackierte zwar die überlieferten Götter, bekannte sich aber zum Glauben an eine unveränderliche Gottheit.
•Pythagoras (ca. 570 bis nach 510) galt als der Begründer einer zahlenmystischen Heilslehre.
•Heraklit (ca. 544–484) lehrte einen Gott, der „sich wandelt wie das Feuer“.
•Parmenides (ca. 540–470) glaubte, hinter den trügerischen Sinnestäuschungen das ewige Sein zu erkennen.
•Empedokles (*ca. 494) sah in Liebe und Hass elementare Kräfte des Weltalls und lehrte die Seelenwanderung.
•Demokrit, angeblich ein Materialist, lehrte, dass die Menschen alles Gute den Göttern verdankten, während sie das Schlechte sich selbst zuzuschreiben hätten.
•Anaxagoras hielt den Geist nicht – wie heutige Naturalisten – für ein spätes Nebenprodukt komplexer Materie, sondern für ewig: „Alles hat der Geist angeordnet, wie es werden sollte, war und ist“.
Grundsätzlich skeptisch gegenüber der Religion waren wohl erst die Sophisten (ca. 450 bis ca. 380 v. Chr.), eine Gruppe pragmatischer Gebildeter, die nützliche Kenntnisse gegen Geld weitergaben. Doch auch sie haben die Existenz der Götter nicht ausgeschlossen.
Ihr Zeitgenosse Sokrates (469–399) war zwar berüchtigt für seine Methode, alles zu hinterfragen und in Zweifel zu ziehen, auch das Weiterleben nach dem Tod. Dennoch bekannte er sich bis zuletzt zum Glauben an die Götter. Und Epikur (um 341 bis 271 oder 270) glaubte zwar nicht an ein Leben nach dem Tod, aber eben doch an Götter – die sich freilich für die Schicksale der Menschen nicht interessieren.
Aber warum erwähnen wir das hier überhaupt? Versteht es sich nicht von selbst, dass die Philosophen der Antike keine Atheisten waren? Damals war nun mal der Glaube an Götter so selbstverständlich wie heute das Vertrauen in die Wissenschaften. Kann uns das nicht egal sein? Der religiöse Glaube der Naturphilosophen ist heute überholt. Worauf es ankommt, ist das Neue: die Beiträge, die sie zu einer wissenschaftlichen Welterklärung geleistet haben, die ohne Götter auskommt.
Stimmt das? Oder steckt auch in dem Teil des antiken Erbes, den wir als vorwissenschaftlich abtun, ein Schatz, der uns verloren gegangen ist und den es wieder zu finden gilt?
Warum eigentlich sollten wir nicht nach den Erfahrungen fragen, auf denen die religiöse Zuversicht der Menschen in früheren Zeiten gründete? Denn so erfolgreich moderne Naturwissenschaft und Technik auch sind: Vielleicht ist es ja gerade ihr Erfolg, der sie so sehr berauscht, dass sie die Defizite ihres Welt- und Menschenbildes gar nicht mehr wahrnehmen können?
Doch zurück zum Glauben der alten Griechen: Sokrates und Platon haben gegen die sophistische Skepsis für religiöse Überzeugungen Position bezogen. Und Aristoteles glaubte zwar nicht an ein Weiterleben der Seele nach dem Tod, aber doch an einen Gott, den „unbewegten Beweger“.
Was die Kirche in ihren Anfängen angeht: Sicherlich hat ihre religiöse Borniertheit dazu beigetragen, dass das Mittelalter hinter den hellenistischen Stand des Wissens zurückfiel. Doch gab es dafür auch andere Gründe, wie auch Jaeger betont. Insbesondere haben sich die Römer bereits vor der Christianisierung wenig für die abstrakten Naturkenntnisse der hellenistischen Gelehrten interessiert. Worauf sie aus waren, das war der praktische Nutzen,