Margarete Schneider

Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald


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– eine Zusammenarbeit mit dem französischen Außenminister Briand – gelang es ihm, Deutschland in den Kreis der anderen Völker zurückzuführen. Auf der Konferenz von Locarno im Jahr 1925 erreichte er es, dass vereinbart wurde, Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied in den Völkerbund aufzunehmen. Auch die Räumung des Ruhrgebietes durch die Franzosen und die Freigabe der ersten Besatzungszonen im Rheinland wurden zugesagt. Von 1925 bis 1929 erlebte Deutschland darum auch wieder einen spürbaren wirtschaftlichen Aufstieg.

      Freilich bewirkte der ständige Regierungswechsel – man wusste im Volk kaum mehr, wer gerade Kanzler war –, dass in weiten Teilen der Gesellschaft die »Weimarer Republik« als Beweis dafür gesehen wurde, dass die Demokratie in Deutschland keine gelingende Regierungsform sein könne. Auch in den evangelischen Pfarrhäusern fanden nur wenige zu diesem Versuch, eine demokratische Kultur zu schaffen, ein positives Verhältnis. Die meisten Theologen hingen an Hindenburg, der zum protestantischen Idol wurde, und hatten ein distanziertes Verhältnis zur Weimarer Demokratie. Nur dass Hindenburg nach Eberts Tod im Jahr 1925 Reichspräsident wurde, hielt sie bei dieser ungeliebten und ständig gefährdeten Republik.

      Bei P. S. fällt auf, dass er trotz seiner bürgerlich-konservativen Einstellung sehr bald darauf aus war, die Arbeiter dadurch kennenzulernen, dass er ihr Leben teilte. Von einer Klassengesellschaft hielt er nichts.45 P. S. suchte die Gemeinschaft mit denen, die um ihre Existenz hart zu ringen hatten. Dahinter stand nicht nur das Bewusstsein, zu einer unlösbaren deutschen Volksgemeinschaft zu gehören, sondern noch mehr das Wissen darum, dass Jesus Christus Menschen verschiedener »Stände« und Erfahrungswelten zusammenruft und zusammenhält.

      »Was meine nächste Zukunft anbetrifft, so will ich zunächst in ein Bergwerk bei Dortmund, um an Ort und Stelle bei ihrer Arbeit, die mir mein Körper auch ermöglicht, die Arbeiter kennenzulernen in ihren Vorzügen und Mängeln, um womöglich zu erkennen, in welchen Winkel ihres Herzens sich die Religion verkrochen hat und um sie hoffentlich immer mehr lieben zu lernen.« (Brief vom 10. April 1922 an die künftigen Schwiegereltern.)

      Das Industriegebiet sieht Paul zum ersten Male: eine andere Welt! Ein grandioses Landschaftsbild; ihm scheint, auch den Menschen sei ein ganz bestimmter Stempel aufgedrückt. – Er wird mitten in die Auseinandersetzung Kapitalismus46-Sozialismus hineingezogen und ist zum Teil ungeheuer bedrückt davon. Sein Herz zieht ihn zur Arbeiterschaft, der Herkunft nach ist er konservativ. Paul hat in Aplerbeck einen Onkel, der kaufmännischer Direktor einer Hütte ist. Dieser führt ihn in seine gesellschaftlichen Kreise ein und verschafft ihm eine gut bezahlte Stelle.

      Was hat P. S. veranlasst, den Onkel Robert Schneider zu brüskieren und die von ihm angebotene, ordentlich bezahlte Stelle als Hauer im letzten Augenblick auszuschlagen? In seinem Tagebuch beschreibt er zwei Essen mit dem Onkel und seinen Kollegen. »Ein einziger katholischer Diplomingenieur zeigt einiges Verständnis für religiöse Fragen. Die meisten sind völlig gleichgültig, beteiligen sich nicht am Thema. Nur Herr R. und der Doktor, der ein radikaler Rationalist ist. Dann kommt der folgende Abend, Herr und Frau und Frl. T. Die Gesellschaft mit Alkohol traktiert. Ein gekaufter Gesangverein singt Lieder, die Damen rauchen Zigaretten, und man erzählt sich sehr anzügliche Witze. Die Form wird gewahrt.« Diese beiden Abende in einer Gesellschaft, wegen der er nicht ins Ruhrgebiet gekommen war, haben ihn irritiert. »Ich kam her, um Arbeiter unter Arbeitern zu sein«, schreibt er am 8. Mai 1922 in sein Tagebuch. »Ich geriet durch Onkel Robert naturgemäß sofort in die Gesellschaft der Herren. Ich hörte Rote-feindliche Äußerungen47 und ich glaubte, die Unbefangenheit verloren zu haben. Ich sah den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeitern zu scharf und wurde kopfscheu …, wandte mich an Phönix in Hörde. Ich lief alle Instanzen durch, bis ich Arbeit zugesichert [bekommen] hatte.

      Um einmal ganz unbefangen Arbeiter unter Arbeitern sein zu können, zog ich es vor, in einem großen Hüttenwerk in Hörde bei Dortmund, in der Hermannshütte, mir Arbeit zu suchen«, schreibt P. S. am 14. Mai 1922 an den »lieben Herrn Pfarrer«, der bald sein Schwiegervater werden wird. »Ich wohne in der Werksküche oder auch ›Ledigenheim‹, dicht bei der Arbeitsstelle und lerne dabei die verschiedensten Arbeitertypen kennen. Das äußere Leben ist hier ganz ähnlich wie in der Kaserne. … Alle Lebensbedürfnisse sind erschreckend teuer … Hauptsächlich bin ich hierher gegangen, um einmal mit Arbeitern zu leben, ihre Freuden und Leiden, ihr Gutes und Böses kennenzulernen, und ich sehe dies auch als eine Art Berufsvorbereitung an, da wir bald in der Rheinprovinz kaum noch rein ländliche Gemeinden haben werden. Sie schrieben mir einmal, dass Gott Sie bis nach Ungarn hinein Ihre eigenen Wege habe gehen lassen, und Sie sehen vielleicht auch meine Wege jetzt als solche eigenen Wege an. Ich weiß es selbst manchmal nicht so recht, ob es solche sind. Zu Hause wollte man mich mit Gewalt abhalten. Aber weil mir in glücklicher Stunde dieser ›Arbeiter‹plan gekommen war, glaubte ich dieser inneren Stimme, dass es die rechte sei.«

      »Donnerstag, nach Kenntnis von meiner Bevorzugung mit Hauerarbeit, kann ich es nicht über mich gewinnen, dem Einfahrtbefehl Folge zu leisten. Ich melde dem Betriebsführer, dass meine Zwecke hier schlecht gewahrt seien und ich anderswo arbeiten wolle.« – »Auf einem langen Instanzenweg vom städtischen Arbeitsnachweis bis zum untersuchenden Arzt gelang mir dies nach acht Tagen, und nun arbeite ich als ›dritter Mann‹ an einem großen Schmelzofen in Hörde« (Tagebuch). Paul wohnt in einem Ledigenheim und lernt die verschiedensten Arbeitertypen kennen. Alle Lebensbedürfnisse sind schrecklich teuer, und er will doch gerne Geld sparen, denn der Vater rückt ungern Geld heraus und ist der Inflation nicht gewachsen. »Die Organisation ist groß, die Industrie ist überwältigend. Und die Menschen sind klein. Hier ist die Feuerprobe, ob du dich, Mensch, behauptest. Der Mensch, der die Industrie meistert, muß riesenstark sein« (Tagebuch). Dies war der erste Eindruck. Nun war er Arbeiter unter Arbeitern. »Habe ich mir manchmal wohl eingebildet, ein Opfer gebracht zu haben, als ich unter die Arbeiter ging, so erleide ich tagtäglich mit meiner Selbstsucht wieder Niederlagen, gegen die Liebe verstoßend. Und immer wenn der Teufel der Selbstsucht mich beherrscht, dann bin ich krank und unentschlossen. Dann sagen die andern wohl: ›Komischer Mensch!‹ Es ist gerade, als ob ich besonders hässlich und eklig sein könnte im persönlichen täglichen Leben, nachdem ich versucht, mir die großen Richtlinien des Lebens nach großen Idealen zu gestalten. Hier gilt es jetzt, den alltäglichen Kleinkampf, um immer mehr ein Leben aus der Liebe heraus, zu führen. Dazu helfe mir Gott!« (Tagebuch).

      Pauls Körper wird immer mehr gestählt unter der schweren Arbeit. »Wie schmeckt auf Schicht ein Schluck kalten Wassers so gut! Was für ein Genuss ist in dem Brausebad nach Staub und Dreck der Arbeit enthalten! O kehr’ zurück zu dem göttlichen Gebot: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!« (Tagebuch). Fröhliche Ausflüge mit den Kameraden unterbrechen den Alltag. Aber dann wieder der Schrei. »Obwohl mir’s allmählich graut, so einsam zu wandern, treibt mich’s doch immer wieder dazu, denn keiner mag meine Interessen teilen. Mich ekelt die Einsamkeit, und mich ekelt die Gesellschaft der Menschen. Ich habe nichts mehr, alles ist mir Problem. Kapitalismus und Sozialismus, Religion und Leben. Ich stehe vor dem Nichts, vor dem völligen Ausgehöhltsein und Leersein. Meine Arbeitszeit ist bald zu Ende. Ich soll wieder predigen. Was soll ich predigen? Kraft von oben tut mir not, darum will ich beten!« (Tagebuch).

      Er kommt wieder heim. »Mit gemischten Gefühlen verließ ich Mitte August meine Arbeitsstätte. Auf unserer Stube hatten wir bei der Abschiedsfeier so etwas wie ein Gemeinschaftserlebnis. Und noch bis 4 Uhr morgens konnten wir vor den letzten Gedanken, die wir miteinander auszutauschen hatten, den Schlaf nicht finden. Um 6 Uhr brachten mich dann zwei von der Stube an den Zug. Ich glaube sicher, dass die innere Verbindung mit einigen unsere äußere Trennung lang überdauern wird. All die Liebe, die mir dort entgegengebracht wurde und die man in der rauhen Industrie- und Arbeiterwelt doppelt dankbar empfindet, kann ich gar nicht in geschriebene Worte bannen. Aber sie hat mir den Glauben an unser Volk und vor allem den Glauben an unsere Arbeiter gestärkt. So möchte ich dieses Vierteljahr im Ledigenheim um keinen Preis missen« (Brief vom 7. September 1922). Lange lässt ihn das Abschiedswort in Hörde »Du bist einer der Unsern, du solltest dableiben« nicht los. – Nun hilft er in Hochelheim dem niedergedrückten und zitterigen Vater treulich im Amt, hilft dem guten Sophiechen bei der größer gewordenen Landwirtschaft; das Pfarrland wird selbst bewirtschaftet, eine Kuh steht im Stall. Im Oktober 1922 reist Paul nach Weilheim bei Tübingen zu unserer Verlobung.