Margarete Schneider

Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald


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in seinem Bericht vom Ersten Theologischen Examen an die künftige Schwiegermutter schreibt P. S.: »Für November jedenfalls war Herr Generalsuperintendent so gütig, mir eine der fünf frei werdenden Stellen im Predigerseminar zu Soest zu versprechen. Ich bin sehr froh darüber, denn dieses Seminar soll im Unterschied zu vielen anderen auch wissenschaftlich auf der Höhe sein. Ein Jährlein dort und dann noch ein halbes in der Vorbereitung auf das 2. Examen, zu dem mir die Koblenzer Herren gute Hoffnung machten, wird meiner vorläufigen Ausbildung dann wohl ein Ziel setzen.«

      Soest liegt nicht im Rheinland, sondern in Westfalen. Die Rheinische Kirche hatte kein eigenes Predigerseminar. Sie hatte mit der Westfälischen Kirche eine Vereinbarung, nach der jeweils fünf Vikare aus der Rheinischen Kirche in das Predigerseminar in Soest aufgenommen wurden. Dort konnten Vikare mit qualifizierten Theologen ihre ersten Erfahrungen im Gottesdienst, im Religions- und Konfirmandenunterricht, bei Hausbesuchen und am Sterbebett durchdenken.

      »Die Ordnung, Ruhe und geistige Arbeit des ›Kloster‹-Aufenthalts empfinde ich als sehr wohltuend, wenn« – und das ist nun noch ein Nachklang von Hörde – »ich sie nur so recht mit ganz reinem Gewissen genießen könnte.48 Auf Schritt und Tritt atmen wir hier die schwere Luft längst vergangener Zeiten« (Tagebuch November 1922). Offenen Sinnes nimmt Paul die Schönheit der ehrwürdigen Stadt in sich auf. »Ich stehe hier dauernd in geistig-wissenschaftlicher Verbindung mit Tübingen, da wir Schlatters Dogmatik in der Systematischen Theologie49 behandeln … Von den Kollegs 50 hat mir am meisten das Systematische über Schlatters Dogmatik gegeben. In Tübingen hatte ich Schlatter nicht verstanden 51 und war an seinen Kollegs vorübergegangen, und als in Soest nun Schlatter behandelt werden sollte, war ich zuerst enttäuscht, um ihn dann während des Semesters immer mehr und mehr schätzen zu lernen. Hand in Hand geht damit eine Wandlung meiner eigenen theologischen Ansichten. Ich glaube, ein bisschen verstanden zu haben, was die Positiven zu sagen haben, und möchte mich selber meiner Grundstruktur nach auch eher positiv als liberal nennen. Im eigenen Sündenbewusstsein erschließt sich uns mit absoluter Geltung die Gottheit und Erlöserkraft Jesu Christi« (Brief vom 8. April 1923).

      Adolf Schlatter52, dessen biblische Theologie für P. S. erst in Soest fruchtbar wurde, ist aufgrund seiner auffallenden Eigenständigkeit in die gängigen Muster theologischer Forschung schwer einzuordnen. Da er immer »aufs Ganze ging«, die gesamte Wirklichkeit in Natur und Geschichte als Werk Gottes verstand, bezog er in seine Arbeit auch die Dogmatik, d. h. die systematische Glaubenslehre, die Ethik und die Philosophie mit ein. Seine eigentliche Bedeutung liegt aber auf dem Gebiet neutestamentlicher Wissenschaft und der Geschichte des antiken Judentums. Seine Auslegungen bezogen sich ganz auf die »Geschichte des Christus«, der Menschen zum Glauben bewegt. Da Schlatter auch für interessierte Laien alle Bücher des Neuen Testaments auslegte – diese Bände erlebten viele Auflagen und wurden auch in neuerer Zeit mehrfach nachgedruckt –, war und ist der Einfluss dieses originellen Außenseiters der wissenschaftlichen Theologie auf Pfarrer und interessierte »Laientheologen« groß.

      Was Schlatters Werk »Das christliche Dogma« betrifft, so schreibt sein Biograf Werner Neuer53, Schlatter habe immer die Auffassung vertreten, »dass der Verzicht auf die Dogmatik die religiöse Gemeinschaft zerstört. Es gibt keine Gemeinde ohne Dogma, ohne zur gemeinsamen Anerkennung gelangte Überzeugungen.« Je schwankender, je bewegter die Frömmigkeit in der Gemeinde sei, desto wichtiger werde für das Leben der Kirche die Dogmatik. Dabei gehe es vor allem darum, was die Bibel uns heute sage. Schlatter verstand sich selbst immer auch als Lehrer der Kirche.

      Ende 1910 hat Schlatter seine Dogmatik vollendet. Sie sollte nicht abstrakte Lehren darbieten, sondern auch »wegweisende Normen« formulieren, die das Glaubensleben des Christen und der Kirche tragen könnten. Es geht ihm also auch um die Gestaltung des christlichen Lebens. In einer Art »Theologie der Tatsachen« bezieht Schlatter, wo es geht, die erfahrbare Realität von Natur, Mensch und Geschichte in seine Darstellung des Glaubens mit ein. Offenbar haben auf den Vikar Schneider besonders die Kapitel 61 bis 64 Eindruck gemacht, in denen Schlatter eindrücklich, aber durchaus nicht bedrückend, die Sünde und Schuld des Menschen beschreibt. Schlatter behält dabei immer Jesus Christus im Blick, der »der Welt Sünde trägt«.

      Seine Dogmatik ist auch »missionarisch«. Sie soll alle Menschen ansprechen, nicht nur bei Kirchenleuten und frommen Christen Glauben wecken. »Wir haben zu erkennen, um zu glauben, und zu glauben, um zu erkennen.«

      Aber auch in Soest geht es für Paul durch viel Dunkelheit und Not, die den Starken, oft Übermütigen und fröhlich in der Arbeit Stehenden ganz verwandeln. »Das Allerschwerste für das Menschenherz ist die Demut. Demut hat nur der, der ganz von sich selber loskommt. Wir müssen uns hassen lernen. Die dunkelsten Stunden unseres Lebens führen uns auch am nächsten zu Gott, und wir schulden Gott für sie den größten Dank« (Tagebuch). »… Gott sei Dank, der meine Tage wieder füllt und ihnen die Öde und Leere nimmt. Gott aber ist getreu, der euch nicht lässt versucht werden über euer Vermögen, sondern schafft, dass die Versuchung so ein Ende gewinne, dass ihr’s könnet ertragen«54 (Tagebuch). Dieses Wort leuchtet in den nächsten drei Jahren immer wieder auf und gibt dem an sich und am Amt Zweifelnden Halt.

      Als sei sie unwichtig, fehlt in M. S.s Beschreibung ganz die Geschichte von ihrer Verlobung. Da sie mir wesentlich dünkt, berichte ich darüber, was in P. S.s Tagebuch steht, und vor allem, was mir M. S. im Oktober 1979 davon erzählt hat. Im Tagebuch steht lediglich: »Von hier [Hochelheim] aus fuhr ich am 17. Oktober [1922] nach Weilheim auf den Brief von ›Gretels Tante‹ und habe mich verlobt, Sonntag, den 22. Oktober. Termin anfangs schwankend. Samstag d. 28. fuhr ich nach Hause zurück.«

      Hinter diesen knappen Angaben verbirgt sich Folgendes: Eine in Tübingen lebende und ihrer Nichte Gretel sehr zugetane Tante glaubte zu bemerken, dass sich ein anderer junger Theologe, der übrigens aus einer prominenten Familie württembergisch-kirchlicher Altehrbarkeit stammte, um das anziehende Mädchen Gretel bemühe. Dieser Gefahr wollte die geistesgegenwärtige Tante unter allen Umständen rechtzeitig begegnen. So schrieb sie couragiert an den ihr kaum bekannten Vikar Schneider die kurze Nachricht: »Herr Schneider, wenn Ihnen an Gretel noch etwas liegt, dann kommen Sie bitte sofort. Es grüßt Sie Gretels Tante.« Der so Angeschriebene ließ alles stehen und liegen und begab sich schleunigst auf den Weg nach Weilheim.

      Was dort geschah, hat mir M. S. so erzählt: Sie und Paul seien am Sonntag mit der Familie spazieren gegangen. Sie seien unterwegs etwas hinter der Familie zurückgeblieben. Schließlich seien sie sich in die Arme gefallen. Abends habe Paul gesagt, er werde es jetzt dem Vater sagen. Paul ging zu ihrem Vater Karl Dieterich und hielt in aller Form um Gretels Hand an. Die Eltern Dieterich haben sich darüber herzlich gefreut. Am nächsten Tag gingen Gretel und Paul nach Tübingen zum Fotografen und ließen jenes bildschöne Foto machen, das man inzwischen in mehreren Büchern findet.55 Gretel war damals fast neunzehn Jahre alt. Das Bild sei lange im Schaufenster des Fotogeschäfts ausgestellt gewesen. Gretels Freundinnen, die es sahen, hätten gedacht, es zeige sie mit einem ihrer Brüder. Sie hätten sich an diesem Tag silberne Ringe gekauft. Goldene seien zu teuer gewesen. Es war ja die Inflationszeit. Erst zur Hochzeit konnten sie sich goldene Ringe leisten. Das Verlobungsfoto habe Paul seinem Vater in Hochelheim gezeigt. Der sei davon freudig bewegt gewesen. Von da an hätten sie öffentlich als verlobt gegolten. Leider habe Paul bald danach ins Predigerseminar nach Soest abreisen müssen.

      Der Ruhrkampf bewegt Paul sehr. »Wir Kandidaten 56 stehen scheinbar abseits von dem großen Geschehnis; wir sind frei, uns zwingt keine äußere Gewalt oder Macht zur Mehrarbeit, und der Staat sorgt noch nach wie vor für uns und mit dem Staate also diese arbeitende Volksgemeinschaft. Es ist einzig das Gewissen, das uns den Kampf in seiner lastenden Schwere empfinden lassen kann. Da, wo es wach ist oder sich wecken lassen will. Was sich daraus für jeden Einzelnen für Aufgaben ergeben, hat dieser selbst zu sagen« (Tagebuch).

      Was den »Ruhrkampf«, d. h. den gewaltlosen Widerstand gegen die französischen Besatzer an der Ruhr, betrifft, so schreibt P. S. von Soest aus am 19. Februar 1923 an »Du meine liebe Mutter« in Weilheim Folgendes. Er äußert die Hoffnung, dass »wir den Wirtschaftskrieg gegen Frankreich gewinnen«. Ferner: »Du möchtest etwas hören von unserer Stimmung über die neuesten Begebenheiten an der Ruhr. Die Westfalen hier sind