Sämtliche dieser Identifizierungen stellen Ich-Erweiterungen dar und geben dem Menschen Halt, Sicherheit und Geborgenheit. Für eine lange Zeit, oft bis über die Lebensmitte hinaus, reichen diese sozial verlässlichen Bindungen aus, um die elementaren Unverfügbarkeiten, Trennung, Krankheit, Tod, erfolgreich zu kompensieren. Doch nach den Psychologen und Philosophen, wie Abraham Maslow oder C. G. Jung, müssen schlussendlich weitere Elemente hinzukommen, um die großen Sinnfragen des Lebens zu befrieden, nämlich Religion, Kunst und Kultur.
Nicht zufälligerweise sind alle eben genannten bürgerlichen Strukturen kardinale sozialistische Angriffspunkte. Sämtliche Bindungs- und Identitätsstrukturen wie Ehe, Familie, Eigentum, Individualität, Religion, Kunst und Kultur werden seitens sozialistischer Ideologie dekonstruiert. Etwas salopp könnte man auch sagen, diese Institutionen werden insbesondere von jenen dekonstruiert, die sie nicht haben können: narzisstische, verunsicherte, bindungsschwache Persönlichkeiten, denen obige Trauben zu sauer sind. Doch der Angriff auf alle Bindungsstrukturen geschieht heutzutage nicht mehr offen und direkt, sondern überaus geschickt und mithilfe der sozialistischen Trojaner Gender, Migration und Klima – und neuerdings Pandemie-Abwehr. Kulturmarxisten haben dazugelernt, der Kampf mit offenem Visier ist vorbei, inzwischen ist man nicht mehr rot, sondern grün. Die zeitgenössischen sozialistischen Projekte heißen »Fridays for Future«, »Seebrücke« und »Extinction Rebellion« und »Wir bleiben zuhause«. Und nur Unmenschen werden gegen derartig humanitäre Aktionen etwas einzuwenden haben …
Kulturmarxismus
Kulturmarxistische Ansätze werden heutzutage nicht mehr von der Arbeiterschaft getragen, sondern von Intellektuellen. Die unweigerliche, stetige Verarmung der Arbeiterschaft, wie sie Karl Marx prognostiziert hatte, trat einfach nicht ein. Mehr noch, der böse Kapitalismus hatte dafür gesorgt, dass sich der Wohlstand der Arbeiter mehrte; daraufhin sprangen viele dem Sozialismus von der Stange. Kräfte, die eine zeitgenössische Gesellschaft dennoch im sozialistischen Sinne umgestalten möchten, müssen folglich neue Narrative schaffen. Dadurch entsteht zunächst der Eindruck, es handele sich überhaupt nicht um Marxismus, obwohl die Kernziele dieselben bleiben:
»Vom Marxismus alter Schule unterscheidet sich der Neomarxismus durch die Wahl der Mittel, nicht in den Zielsetzungen. Wie von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest im Jahre 1848 ausgeführt, besteht das Ziel der kommunistischen Bewegung darin, das Privateigentum abzuschaffen und mit den überlieferten Ideen und Eigentumsverhältnissen radikal zu brechen. Es gilt, die Nationalität ebenso abzuschaffen wie die Familie und die Religion. Ziel ist es, der Privatwirtschaft alles Kapital zu entreißen, die Produktionsmittel in die Hände des Staates zu überführen und die Wirtschaft zentral zu organisieren.« 43
Strategische Vordenker wie Antonio Gramsci (1891– 1937) und Herbert Marcuse (1898–1979) erkannten, dass sich ein neuer marxistischer Anlauf nur über eine tief greifende, kulturelle Umgestaltung der Gesellschaft durchsetzen lässt. Vertreter der 68er-Revolution übernahmen die Thesen; zudem war ihnen bewusst, dass man hierfür einen langen Atem braucht. Bis das Mindset Früchte trägt, kann es ein oder zwei Generationen dauern. Naturgemäß kommen den Institutionen Schule, Lehre, Universität und Medien, letztlich aber auch den Kirchen kardinale Schlüsselrollen zu. Derartige Institutionen mit linkssozialistisch geschultem Personal zu infiltrieren, bezeichnete der marxistische Studentenführer Rudi Dutschke als »Marsch durch die Institutionen«. Wie erfolgreich Dutschkes Strategie im ehemaligen Westen Deutschlands seit 1967 schlussendlich war, kann man nur vermuten. Angesichts der offensichtlichen Linksverschiebung von Politik, Medien und in den Kirchen auf dem Terrain der ehemaligen BRD ist die Taktik durchaus aufgegangen. Nach meiner Einschätzung prägen Kulturmarxisten den Zeitgeist sogar so erfolgreich, dass kapitalistisch orientierte Global-Player um ein temporäres Zweckbündnis gar nicht herumkommen. Jede strategische Unternehmung zur Gewinnmaximierung muss zwangsweise ein linksmoralisches und ökologisches Framing haben – und sei das eigentliche Vorhaben auch noch so kapitalistisch.
Wie bereits erwähnt, gehört die Dekonstruktion haltgebender Strukturen zur neomarxistischen Langzeitstrategie. Zufriedene und glückliche Menschen lassen sich kaum für Sozialismus begeistern. Will man ein gut verwurzeltes Bäumchen ohne Axt umlegen, empfiehlt sich eine Doppelstrategie: Zum einen zerrt und rüttelt man am Stamm, man setzt den Baum einer Art »Sturm« aus. Zum anderen untergräbt man seine Wurzeln, damit der Baum an Halt verliert. Beides, Sturm und Entwurzelung, bringt den Baum schließlich zum Fallen. Will man einen verwurzelten und zufriedenen Menschen mit Sozialismus zwangsbeglücken, empfiehlt sich dieselbe Strategie. Wie es Igor Schafarewitsch beschreibt, geht der sozialistischen Strategie daher immer die Betonung der Dystopie voraus. Erst danach kann sich der Sozialismus als Retter in der Not anbieten. Die Zustände der Gesellschaft als haltlos, verderbt und kurz vor dem Zerfall darzustellen sowie Angst und Schrecken zu verbreiten entspricht dem »Sturm«.
»Kaum hat eine der vielen erdachten Problemlagen an Wirkkraft verloren, muss ein neues Problem erfunden werden und als Schreckensszenario herhalten. Der durch die kapitalistische Wirtschaftsordnung erreichte Massenwohlstand wird als ›Konsumterror‹ gegeißelt, wirtschaftliches Wachstum mit Umweltzerstörung in Verbindung gebracht und Eigentum als Eigennutz gebrandmarkt. Nachdem die in den 1960er-Jahren vorhergesagte weltweite Hungerkatastrophe durch Überbevölkerung nicht eintrat und das in den 1970ern gepredigte Ende der Rohstoffe sich als Schimäre erwies, dient derzeit der Klimawandel als das dominierende Schreckensszenario. Die These von der globalen Erhitzung des Klimas ist maßgeschneidert, um umfassende Eingriffe in das Privateigentum zu rechtfertigen, globale Lösungen als notwendig darzustellen und darüber hinaus auch die Auslöschung der menschlichen Fortpflanzung zu fordern.« 44
Täglich blasen linksgrüne Leitmedien die verschiedensten Stürme durch die deutschen Wohnzimmer, lange Zeit beherrschten »Klimakrise« und »Rechtsruck« die Schlagzeilen, bis mit Corona der ultimative Sturm entfacht werden konnte. Neben diesen Stürmen ist jedoch die Technik der Entwurzelung maßgeblich. Sie besteht in der Zerstörung von gefühlten Gewissheiten, die den Menschen Halt und Sicherheit geben. Das kardinale Hauptinstrument hierfür ist Beschämung, und zwar genau dort, wo der verwurzelte Mensch glaubt, intuitiv die Wirklichkeit erfasst zu haben. Man könnte auch sagen, das kulturmarxistische Kardinalziel ist die Dekonstruktion des »gesunden Menschenverstandes«, wobei der erste Schritt darin besteht, die Existenz desselben zu leugnen. Wer sich heute noch auf den »gesunden Menschenverstand« beruft, hat in der Debatte etwa dieselben Chancen wie jemand, der eine Kritik einleitet mit dem Satz »man wird ja wohl noch sagen dürfen«. Nein, wird man nicht, sechs, setzen. Was auch immer man sagen wollte – mit dieser Einleitung hat man sich bereits disqualifiziert.
Unverzüglich, rigoros und überall dort, wo normale Menschen Identität und Gewissheit proklamieren, setzt die Technik der Beschämung an. Einfache Wahrheiten auszusprechen wird mithilfe Politischer Korrektheit sofort unterbunden. Sie glauben, Menschen werden selbstverständlich als Mann oder Frau geboren und Frauen und Männer unterscheiden sich? Dann sind sie ein unverbesserlicher Sexist, Chauvinist und wahrscheinlich obendrein noch homophob. Sie glauben, Menschen sind verschieden? Dann sind sie ein böser Rassist. Sie fühlen sich ihrer Familie, ihrem Ort, ihrem Landkreis, ihrer Nation und ihrer Kultur in besonderer Weise verbunden? Dann sind sie Fremdenfeind, Ethnopluralist, Nationalist oder kurz – »Nazi«. Man könnte endlos so weitermachen. Gefühlte Gewissheiten, die einer kulturmarxistischen Agenda widersprechen, werden systematisch diskreditiert. In der Regel mit dem Universalwerkzeug »rechts«. Letzten Endes geht es um die Tabuisierung von Identität, genauer, es geht darum, jede gewachsene Ich-Verwurzelung im sozialen Raum zu roden. Schaut man sich den Zustand der deutschen Gesellschaft an, kann man den Eindruck gewinnen, diese Techniken haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Schriftstellerin Eva Rex geht mit ihrem Essay »Rettet den gesunden Menschenverstand« denselben Fragen nach wie ich in diesem Buch:
»Warum werden wir den Eindruck nicht los, dass immer größere Teile unserer Mitmenschen in einer Parallelwelt leben? Wie kommt es, dass die meisten Mitglieder der westlichen Gesellschaften so merkwürdig apathisch und desinteressiert an ihrem eigenen Geschick agieren und ihrer eigenen Verdrängung (als Volk, als Nation, als Kultur) entgegensehen, ja diese sogar