den zwei Jahrtausenden danach fanden zahllose weitere Naturbeobachtungen statt. Ein grundlegendes Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt war aber schwierig, weil man sehr kleine Objekte sowie Vorgänge in der Nacht und unter Wasser nicht beobachten konnte. Zudem konnten die meisten Naturinteressierten kaum mehr als ihre unmittelbare Umgebung erkunden. Mit fortschreitender Technik und verbesserten Reisemöglichkeiten wurden Forschern wie Robert Hooke, Antoni van Leeuwenhoek, Carl von Linné, Alexander von Humboldt, Alfred Russel Wallace, Charles Darwin und Johannes Warming ökologische Vorgänge zunehmend bewusst. Sie legten die Basis für die Ökologie als Wissenschaft, auch wenn sie das Wort noch nicht verwendeten.
Mathematische Modelle
Schon früh erkannte man, dass einer der grundlegendsten ökologischen Prozesse der Kampf ums Überleben ist: Pflanzenfresser müssen Pflanzen finden, Fleischfresser ihre Beute und Beutetiere müssen Räubern entkommen. Räuber tun ihr Möglichstes, um ihre Beutetiere zu jagen, und diese tun ihr Möglichstes, um nicht gefressen zu werden. 1920 führte Alfred Lotka eines der ersten mathematischen Modelle der Ökologie ein. Die heute Lotka-Volterra-Modell genannten Räuber-Beute-Gleichungen sagen die Populationsschwankungen der beiden Gruppen vorher.
Anfang des 20. Jahrhunderts führte Joseph Grinnell in den USA umfangreiche Studien bezüglich der Ansprüche von Tieren an ihren Lebensraum durch. Demnach besetzen Arten bestimmte »Nischen« – und wenn zwei Arten ähnliche Nahrungsbedürfnisse haben, wird eine die andere verdrängen. Darwin hatte das schon bei der Reise mit der Beagle beobachtet, Grinnells Axiome führten die Idee weiter. 1934 zeigte Georgi Gause im Labor, was er das Konkurrenzausschlussprinzip nannte. William E. Odum meinte im Jahr 1959, »die ökologische Nische eines Organismus hängt nicht nur davon ab, wo er lebt, sondern auch davon, was er tut«.
Aus der Natur ins Labor
Laborexperimente und Naturbeobachtungen ergeben wichtige Daten zu ökologischen Vorgängen. Freilandexperimente, bei denen ein Ökosystem teilweise verändert wird, um Hypothesen zu testen, wurden vor Joe Connells Arbeiten zu Seepocken in Schottland jedoch nicht wissenschaftlich präzise durchgeführt. Erst seine 1961 veröffentlichten Ergebnisse beruhten auf sorgfältiger Planung, sie waren abgesichert und wiederholbar.
Connell definierte den »Goldstandard« für Freilandexperimente, doch Versuche im Labor blieben genauso wichtig, wie Earl Werner 30 Jahre später zeigte. Er erkannte die nicht konsumtiven Effekte räuberischer Libellenlarven auf das Verhalten und die körperliche Entwicklung ihrer Beute (Kaulquappen).
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden viele neue ökologische Vorgänge erkannt. Arbeiten von Robert MacArthur und anderen Forschern zur Konkurrenz zwischen Arten führten zur Theorie des optimalen Nahrungserwerbs. Sie erklärt, warum Tiere bestimmte Nahrungsquellen nutzen und andere nicht. Symbiosen versteht man dank Biologen wie Daniel Janzen besser. Robert Paines Forschungen mit Seesternen und Muscheln stärkten das Konzept der Schlüsselarten, die einen unverhältnismäßig hohen Einfluss auf ihr Ökosystem haben.
Neue Techniken
Technische Fortschritte, etwa genauere chemische Messverfahren, die Erdfernerkundung durch Satelliten sowie Computer, die enorme Datenmengen verarbeiten können, haben neue Forschungsbereiche eröffnet.
Die ökologische Stöchiometrie etwa erforscht den Fluss von Energie und chemischen Elementen durch Nahrungsnetze und Ökosysteme. Wie bei vielen Konzepten der Ökologie liegen ihre Anfänge einige Jahre zurück, verbreiteten sich aber erst 2003 durch das Buch Ecological Stoichiometry: The Biology of Elements from Molecules to the Biosphere von Robert Stern und James Elser. Neue Techniken werden gewiss auch in Zukunft unser Verständnis ökologischer Prozesse vertiefen.
LEHREN AUS DER MATHEMATISCHEN THEORIE ZUM KAMPF UMS ÜBERLEBEN
RÄUBER-BEUTE-GLEICHUNGEN
IM KONTEXT
SCHLÜSSELFIGUREN
Alfred J. Lotka (1880–1949),
Vito Volterra (1860–1940)
FRÜHER
1798 Der britische Ökonom Thomas Malthus zeigt, dass die Rate, mit der sich eine Population ändert, mit der Populationsgröße zunimmt.
1871 In Alice im Spiegelland von Lewis Carroll sagt die Rote Königin: »Du musst laufen, so schnell du kannst, um nur auf demselben Platz zu bleiben.«
SPÄTER
1973 Der US-Amerikaner Leigh Van Valen führt die Rote-Königin-Hypothese zum »Rüstungswettlauf« zwischen Räubern und Beute ein.
1989 Die Arditi-Ginzburg-Gleichungen sind ein weiteres Modell der Räuber-Beute-Populationsdynamik, die das Zahlenverhältnis der Arten mit einbezieht.
Die Räuber-Beute-Gleichungen sind ein frühes Beispiel für die Anwendung von Mathematik in der Biologie. Die zwei Gleichungen, die der US-Amerikaner Alfred J. Lotka und der Italiener Vito Volterra in den 1920er-Jahren formulierten und die auch Lotka-Volterra-Gleichungen heißen, beschreiben, wie die Populationen einer Räuberart und einer Beuteart sich relativ zueinander entwickeln.
Lotka stellte die Gleichungen 1910 auf, um die Reaktionsrate von autokatalytischen chemischen Reaktionen (chemische Prozesse, die sich selbst regulieren) zu verstehen. Im folgenden Jahrzehnt wendete er sie auf die Populationsdynamik von Wildtieren an.
1926 kam Vito Volterra zum gleichen Schluss. Sein Interesse an dem Thema war nach einem Treffen mit dem italienischen Meeresbiologen Umberto D’Ancona geweckt. D’Ancona erzählte Volterra, dass die Fischer an der Adria im Ersten Weltkrieg einen erheblich höheren Anteil an Raubfischen gefangen hatten. Dies hatte offenbar damit zu tun, dass im Krieg weniger gefischt wurde. D’Ancona war aber nicht klar, warum dadurch nicht mehr Fische aller Arten vorhanden waren. Mit denselben Gleichungen wie Lotka konnte Volterra schließlich die Veränderungen sowohl bei den Räuber- als auch den Beutearten erklären.
Ein Gepard verfolgt eine Thomson-Gazelle. Die Räuber-Beute-Gleichungen modellieren, wie sich die Populationszahlen der beiden Arten durch die Aktivitäten der jeweils anderen ändern.
Populationsprinzipien
Als Lotka und Volterra ihre Berechnungen anstellten, steckte die Wissenschaft der Populationsdynamik noch in den Kinderschuhen; sie hatte sich seit den Studien des britischen Ökonomen Thomas Malthus im späten 18. Jahrhundert kaum entwickelt. Nach Malthus nimmt eine Population sehr schnell zu oder ab, solange die Umweltbedingungen für das Überleben konstant sind. Die Wachstumsrate wird umso höher, je größer die Population ist. Mit dieser Theorie sagte Malthus eine katastrophale Zukunft für die Menschheit voraus. Die Zahl der Menschen würde viel schneller wachsen als die Menge an Lebensmitteln, die auf der Welt produziert werden können. Letztlich, so Malthus, käme ein Punkt, an dem die Weltbevölkerung wegen einer globalen Hungersnot schrumpfen würde.
Malthus’ dunkle Vision trat dank technischer Fortschritte in der Landwirtschaft, etwa der Entwicklung von Kunstdünger, nicht ein, sein Bevölkerungsmodell ließ sich aber auch auf Populationen von Arten in Ökosystemen anwenden. Jeder Lebensraum und jede Nische, die eine Art in der Artgemeinschaft