Christoph Heubner

Durch die Knochen bis ins Herz


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und ängstlicher Bursche gewesen ist, muss er irgendwo bei der Arbeit einen Nagel abgezweigt haben. Das war natürlich verboten, und wenn sie ihn erwischt hätten, hätten sie ihn vielleicht totgeschlagen, aber Wolf hat den Nagel nie bei sich getragen, sondern in einer Mauerritze versteckt. Ab und zu, wenn wir für einige Minuten unbeobachtet waren, hat er mit den Augen schnell zur Sicherheit nochmal alle Richtungen abgesucht, dann eine kurze Drehung zu mir, Finger an den Mund, Psst, und schon ist er Richtung Mauerritze losgetrabt und mit dem Nagel am Ende des Appellplatzes um die Ecke von Block 6 verschwunden. Nach zwei, drei Minuten kam er zurückgerannt, der Nagel verschwand in der Mauerritze und er reihte sich zur Arbeit ein. Das habe ich über die Wochen, die wir gemeinsam geschuftet haben, immer wieder beobachtet. Und du kannst dir vorstellen, Barry, dass ich verdammt neugierig war, was um Himmels willen Wolf mit dem Nagel anstellte. Und so habe ich ihn eines Tages gefragt: Wolf, du weißt, dass es jedes Mal lebensgefährlich für dich und auch für uns ist, wenn du aus dem Kommando verschwindest, was zum Teufel machst du mit dem Nagel? Ich habe Angst, dass sie mich umbringen, dass ich das hier nicht schaffe, dass ich einfach verschwinde. An die hintere Außenwand von Block 7 ritze ich meinen Namen und meine Adresse ein, zusammen mit der Nummer, die sie mir verpasst haben. Verstehst du? Das ist mein Beweis. Ich habe kein Gewehr, aber ich habe einen Nagel, wenigstens etwas.

      Angekommen, sagte Barry, die Botschaft ist angekommen. Sehr mutig, dein Freund. Weißt du, was aus ihm geworden ist? Bis Ende November 1944 waren wir zusammen im Kommando. Er muss Ende Oktober mit seinem Namen schon fertig gewesen sein, denn im November blieb der Nagel in seinem Versteck und wurde nicht mehr gebraucht. Alle Wege waren tief verschneit, und wir haben erbärmlich gefroren, so ausgehungert wie wir waren. Er hätte sich da auch nicht mehr vom Kommando absetzen können, denn sie hätten seine Spuren gesehen. Als das Kommando aufgelöst wurde, haben wir uns aus den Augen verloren, zwei Fäden, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Also im Lager habe ich ihn nicht mehr wieder gesehen, und ich wusste auch nicht, ob er die letzten Monate des ganzen Spuks überlebt hatte. Jahre später, als wir schon hier in Amerika waren und sich unser Leben langsam sortierte, trafen wir auf andere Überlebende, und so kam auch ein Kontakt mit einer Freundin von Hannah zustande, die in Toronto lebte. Hannah und Angela waren im Frauenlager in Birkenau in derselben Baracke gewesen. Angela war es, die uns schrieb, dass sie in Toronto mehrmals einen Überlebenden mit dem Vornamen Wolf getroffen hatte, der auch in Auschwitz Häftling gewesen war. Ob wir ihn kennen würden? Er sei ein mürrischer und einsilbiger Einzelgänger, schrieb Angela, niemand komme mit ihm zurecht. Weil sich das gar nicht nach dem Wolf anhörte, den ich vor Augen hatte, habe ich sie gefragt, ob es ein Foto von ihm gebe. Sie schickte uns wenig später ein Gruppenbild von einer Zusammenkunft Überlebender im Fairmont Royal York Hotel in Toronto. Und tatsächlich: Am äußersten Rand der letzten Reihe steht – schon fast im Dunkeln – ein unendlich trauriger Mann, den man nicht nach dem Weg fragen würde, auch wenn er der einzige Mensch auf der ganzen Straße wäre. Über seinem Kopf hatte Angela einen Pfeil eingezeichnet, aber ich hätte Wolf auch ohne Pfeil sofort erkannt. Es war gar nicht gut, ihn so wiederzusehen, und es tut mir immer noch weh, dass er sich in dieser Dunkelheit verloren hat. Bis heute bete ich darum, dass er sich auch an den anderen Wolf erinnern kann, der mich und andere in Auschwitz mit seinem Mut getröstet und mit seinen Erinnerungen ermutigt hat, wenn er von der Stadt seiner Kindheit erzählte und wir uns mit ihm zum Fluss vor der Stadt hinträumten, an dessen Ufer wir standen und den Inseln aus Gras nachsahen, die langsam der Oder und dem Meer entgegentrieben. Und bevor du fragst, Barry, natürlich habe ich nach seinem Namen gesucht, als ich das erste Mal wieder dorthin gefahren bin. Ich habe mir vor Anspannung fast in die Hose gemacht, als ich am Ende des Appellplatzes um die Ecke gebogen und zum Block 7 gegangen bin. Die Inschrift war da, im Meer der Backsteine siehst du sie kaum, du musst sie schon suchen, aber sie ist da, so wie Wolf sie mir beschrieben hat. Tief eingekratzt, in den Stein und in die Welt, das muss ein guter Nagel gewesen sein.

      Und wieder saßen wir eine lange Weile schweigend im Auto, hatten die Seitenscheiben heruntergedreht und rauchten, bis Barry die Stille unterbrach und sagte: Eine letzte Frage noch, warum ich, warum hast du mich ausgesucht? Und durch den Rauch hindurch antwortete ich ihm: Ich laufe hier in diesem Club seit Jahren in diesen kurzärmeligen Tennishemden herum. Einmal hat der dicke Dave eine Bemerkung gemacht: Hey, Roman, du hättest dir die Telefonnummer doch nicht auf den Arm schreiben müssen, ich hätte dir auch einen Zettel geliehen, aber du, Barry, du warst der Erste, der ernsthaft gefragt hat, und ich hatte das Gefühl, du willst wissen, was die Zahlen wirklich bedeuten und was dahintersteckt. Ich habe vorher mit meinem Bruder Leon gesprochen und der hat mir gesagt, dass ich mit dir reden soll, dass wir die Fragen der Menschen beantworten müssen, bevor andere über uns und was dort geschehen ist, Unsinn und Lügen erzählen. Gut so, sagte Barry, ich bin dir sehr dankbar, und jetzt kommt das Match.

      Ja, das war der Anfang: Ich bin dann über Jahre in Schulen gegangen, habe vor Studenten und allen möglichen Gruppen gesprochen, bin auf Stille und Tränen gestoßen, auf naive und kluge Fragen, auf Menschen, die mir auf den Wecker gefallen sind, weil sie mir mit ihren Gefühlen zu nah auf den Leib rückten, und auf Menschen, die verstanden haben, dass man nach zwei Stunden des Erzählens aus dieser grausamen und entsetzlichen Welt einfach eine Pause braucht, ein Glas Wein und ein Gespräch über Tennis, aber halt, vielleicht könnte ich noch die Geschichte über mein Tennismatch mit Barry erzählen und wie es angefangen hat, dass ich heute hier vor ihnen stehe. Nein, im Ernst, in all diesen Jahren wusste ich natürlich, dass dort draußen der Antisemitismus weiter existierte, dass Nazis durch die Welt geisterten und behaupteten, Auschwitz sei ein Fake und Gaskammern habe es dort nie gegeben. Und bei jedem meiner Auftritte war mir auch bewusst, dass es jenseits der Hörsäle eine andere, durchgedrehte Welt des Hasses und der Lüge gab, in der sich böse Menschen mit nicht enden wollender Energie auf die Überlebenden stürzten, um sie der Lüge zu bezichtigen und zu verhöhnen, weil sie genau wussten, dass die Überlebenden und ihre Zeugenaussagen der lebendige Beweis dafür waren, dass ihr Hass und ihre Ideologie die Welt schon einmal ins Verderben geführt hatten.

      Im Juli 2016 reiste ich nach Auschwitz, diesmal ohne Hannah, die schon zu geschwächt war. Wir wollten Papst Franziskus begrüßen, der die Gedenkstätte gemeinsam mit vielen jungen Menschen besuchen würde. Ich hatte mit Interesse und Sympathie gehört, dass dieser Papst sich dafür entschieden hatte, in Auschwitz zu schweigen: Keine große Rede, keine Beschwörungen, keine Erklärungsversuche: Ein Schrei des Schweigens angesichts dessen, was hier geschehen war, und eine Nachfrage an die Gegenwart, so habe ich Franziskus verstanden, der mir mit dieser Geste noch sympathischer wurde. Und so warteten wir in der brütenden Hitze in Birkenau auf das Erscheinen des Papstes, wir hatten uns blauweiß gestreifte Tücher um den Hals gelegt, um als Überlebende erkannt zu werden. Normalerweise hasse ich solchen Mummenschanz, aber an diesem Tag war es mir und den anderen wichtig, der Welt zu zeigen, dass wir noch da waren und auch diese Gelegenheit nutzten, hier und heute Zeugnis abzulegen und im Schweigen des Papstes die Stimme derer zu sein, die man hier getötet und verbrannt hatte. Als der Papst sich verabschiedete, drängten Journalisten aus aller Welt auf uns ein, die uns nach unseren Eindrücken befragen wollten. Zum Schluss geriet ich an ein Team des spanischen Fernsehens. Der junge Reporter war höflich und verhielt sich dem Ort und dem Anlass angemessen: Sir, fragte er mich, wie viele Menschen sind hier gestorben? Niemand, antwortete ich ihm, niemand. Zuerst guckte er mich verwirrt an, dann wiederholte er leicht lächelnd die Frage – der alte Knacker hatte sie wohl beim ersten Mal nicht richtig verstanden oder war schwerhörig –, wie viele Menschen sind hier gestorben, Sir? Und ich antwortete erneut: Niemand, hier ist niemand gestorben. Sterben – das bedeutet doch eines natürlichen Todes zu sterben. Hier ist niemand gestorben. Hier wurden Menschen ermordet, mit Gas, durch Hunger, durch Schüsse – es gab viele Methoden, die Häftlinge umzubringen. Die Mörder waren sehr erfinderisch. Und die Ermordeten hat man in den Krematorien verbrannt und ihre Asche verstreut: Das ist hier geschehen. Thank you, sagte verblüfft der sympathische spanische Reporter und ich habe mich umgedreht und bin Richtung Bus gegangen, der uns zum Hotel zurückbringen sollte. Ich war ziemlich geladen, weil ich mich über die unbedachte Frage des Reporters aufgeregt hatte, aber noch mehr geärgert habe ich mich darüber, dass es im Trubel dieses Tages keine Gelegenheit gegeben hatte, dem Papst die Grüße seiner größten irischen Fans aus New York, Barry und Ehefrau, zu übermitteln. Gott sei Dank habe ich Franziskus am Abend dieses Tages noch einmal bei einer Begegnung im kleinen Kreis in Krakau getroffen. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen,