Andrea Ross

Operation Terra 2.0


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hatte den Pflanzbereich eines Gewächshauses knöcheltief unter Wasser gesetzt. Er hatte das Leck zu spät bemerkt.

      Nachdenklich tigerte Philipp wie jeden Abend jene Straße entlang, welche in den Westteil der Siedlung führte. Der Gedanke, jetzt nach Hause zu müssen, schmeckte ihm gar nicht. Die Sonne schien wärmend vom rötlich blauen Himmel, und es würde noch für ein paar Stunden taghell sein.

      Er zog seine Jacke aus, band sie sich um die Hüften. Sollte er versuchen, über die Mauer zu kommen? Das einzige Tor, das aus der Siedlung hinaus führte lag im Südosten, war stets bewacht. Angeblich gegen mögliche Angriffe von außen. Trotzdem hatte er vor ein paar Wochen den Versuch unternommen, hinaus zu spazieren und war prompt aufgehalten worden. Die Kolonie war ein verdammtes Gefängnis, nichts weiter!

      ›Wenn ich nun eine der großen Regentonnen nehme und sie verkehrt herum vor die Mauer stelle? Dann könnte ich es schaffen, sie zu überwinden. Um diese Jahreszeit sind sie meist leer‹, überlegte Emmerson. Erstaunt stellte er wenige Minuten später fest, dass er bereits an seinem Haus vorbei gelaufen war. Das wertete er als Fingerzeig des Schicksals. Nein, er würde heute nicht gleich heimgehen, sondern es endlich wagen!

      Falls sie ihn erwischten, was wollten sie schon tun? Gefängnisse gab es auf dem Mars ebenso wenig wie Polizei oder Gerichte. Zwar bestand die Möglichkeit, kriminelle Elemente mit dem nächsten Raumfrachter zur Erde zu schicken, doch dafür musste man sicherlich mehr anstellen als mal kurz über den Wall zu klettern.

      Das letzte Grundstück der Straße kam in Sichtweite, dicht dahinter lag die Siedlungsgrenze. Philipp kannte den deutschen Besitzer dieses Hauses, er arbeitete mit ihm zusammen. Sein Blick fiel unwillkürlich auf die mausgraue Regentonne, die bei den baugleichen Häusern jeweils an derselben Stelle stand. Weit und breit war keiner der Bewohner zu hören oder zu sehen. Wahrscheinlich waren die Lemkes nach der Arbeit noch ins Kino oder Schwimmbad gegangen, das taten sie häufig. Sollte er oder sollte er nicht?

      Er sollte, der Beschluss war gefasst. Mit eingezogenem Kopf schlich er durch den Vorgarten, duckte sich wie ein Einbrecher hinter den üppigen Tomatenstauden. Alles blieb ruhig. Dann ging er neben der Regentonne in Deckung, spähte vorsichtig über den oberen Rand ins Innere. Hatte er es sich doch gedacht, nur eine Handbreit rotbraunes Wasser bedeckte den Boden. Kurzentschlossen kippte er die Tonne um, ließ Wasser und Schlamm heraussickern und umfasste sie mit beiden Armen.

      Als er das sperrige Plastikgefäß gerade schwitzend auf die Straße zerren wollte, hörte er Stimmen, die sich näherten. ›Die Nachbarn vom Haus auf der anderen Straßenseite, verflucht noch mal! Die werden mich auf jeden Fall sehen!‹

      Er ließ von der Tonne ab und stellte sich vor die Haustür. Tat so, als wolle er gerade seinen Daumen auf das IDPad legen.

      »Hallo Patrick! Na, einen schönen Tag gehabt?«, fragte die Frau fröhlich. Das Paar war stehen geblieben.

      Philipp atmete stoßweise, drehte sich selbstverständlich nicht um. Er nickte. »Geht so«. Innerlich betete er, dass die lästigen Störer in ihrem Haus verschwinden und sich dort möglichst von den Fenstern zum Vorgarten fernhalten sollten.

      Weitere Nachbarn nahten grüßend, verwickelten die anderen in ein angeregtes Gespräch. Gelächter. Dann verschwanden alle vier im Haus gegenüber, kümmerten sich nicht mehr um den vermeintlichen Patrick Lemke. Manchmal war gute Nachbarschaft eben doch was Feines.

      Nun musste es schnell gehen. Er zerrte an der Tonne, bugsierte sie keuchend um die Grundstücksecke und suchte nach einem ebenen Stück Boden, um sie gerade hinzustellen. Ein letztes Mal sah er sich prüfend um, dann kletterte er auf das etwa einen Meter hohe Behältnis, dessen Boden sich unter seinem Gewicht eindellte, und zog sich mit einem Ächzen an der Mauer hoch. Er zögerte einen Moment, denn er musste auf der anderen Seit zwei Meter fünfzig in die Tiefe springen. Der Boden lag dort voller Geröll, man konnte sich leicht am Knöchel verletzen.

      Der Sprung gelang. Erst jetzt wurde Philipp bewusst, dass er auf dem Rückweg Probleme bekommen würde, weil ja die Tonne auf der anderen Seite der Mauer stand und er irgendwie von dieser Seite aus hinauf gelangen musste. Er vertagte das Problem auf später, richtete seinen Blick vorerst lieber auf den glucksenden, gemächlich dahinfließenden Fluss.

      Wie herrlich, bewegtes Wasser zu sehen! Dies war eben doch etwas ganz anderes als die Lichtsimulation in seinem Badezimmer, die er inzwischen längst nicht mehr so reizvoll fand wie zu Anfang.

      Philipp setzte sich zwischen saftig grünen Farnen und kleinen, blühenden Steppenpflanzen ans Ufer, warf Steine ins wadenhohe Wasser. Die spärliche Vegetation aus kälteresistenten Pflanzen stammte aus der sibirischen Tundra, man hatte die Samen eigens zum Mars transportiert. Von selbst wuchs in dieser toten Einöde absolut nichts, da der Boden ja keine lebenden Samen enthielt. Mit ein bisschen Glück würde sich das angebaute Grün jedoch nach und nach wie ein schönes Kleid über die Landschaft ziehen. Ein Anfang war gemacht.

      Er hätte ewig so sitzenbleiben, Betrachtungen anstellen und den entspannenden Anblick des Wassers genießen können, hätte ihn die blanke Neugier nicht weiter getrieben.

      Im Schlendergang folgte er dem Flusslauf nach Norden, in Richtung der Hügelketten. Roter Staub lag in der Sommerluft, man sah die Landschaft wie durch einen Weichzeichner. Die Sonne erstrahlte dadurch in Rosa. Philipp genoss den illegalen Ausflug in vollen Zügen. Die Sonne auf der Haut, das Alleinsein, der Gang durch unbekannte Welten, der elektrisierende Reiz des Verbotenen … pfeifend stieg er auf eine kleine Anhöhe, beschattete seine Augen mit einer Hand.

      Rotbraune Geröllhalden erstreckten sich in nordwestlicher Richtung bis zum Horizont, nur durchschnitten vom etwa fünf Meter breiten Fluss, der mäandernd in der Ferne verschwand. Im Norden thronten kahle Hügelketten, die nach Osten hin flacher wurden. Wie weit mochte diese Region entfernt liegen? So zehn, fünfzehn Kilometer? ›Eindeutig zu weit für den heutigen Fußmarsch‹, entschied Philipp enttäuscht.

      Er wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, da sah er unterhalb eines der Hügel etwas glänzen. Er sah erstaunt ein zweites Mal hin. Kein Zweifel, da reflektierte irgendein Gegenstand die schräg auftreffenden Sonnenstrahlen! Nur – worum mochte es sich handeln? Ihm war nichts darüber bekannt, dass die Siedlung Außenposten unterhielt. Natürlichen Ursprungs konnte die Reflektion allerdings erst recht nicht sein, denn das Flussbett verlief etliche Kilometer weiter westlich. Wie dem auch war, das Rätsel ließ sich aus dieser Entfernung bedauerlicherweise nicht lösen.

      Philipp beschloss, noch eine halbe Stunde in der freien Landschaft umher zu wandern, anschließend am Wall entlang zu gehen und am Tor reumütig zu behaupten, er sei auf die Mauer gestiegen, habe das Gleichgewicht verloren und sei versehentlich auf der anderen Seite heruntergefallen. Das Gegenteil würde ihm wohl schwerlich jemand beweisen können.

      ›Und warum habe ich eine Tonne geklaut … äh, ausgeliehen … und bin überhaupt erst hinauf geklettert?‹, sinnierte Philipp beim Gehen. ›Ah, ich weiß … ich wollte den Wasserstand des Flusses überprüfen, weil ich mir Sorgen gemacht habe, ob die Bewässerungsanlage für den Rest dieses trockenen Sommers noch problemlos gespeist werden kann‹.

      Der Plan funktionierte prächtig. Außer einer Belehrung über die möglichen Folgen bodenlosen Leichtsinns und der Anmaßung von Aufgaben, die ihm gar nicht oblägen, zeitigte seine temporäre Flucht keine Folgen. Philipp brachte in der Abenddämmerung die Wassertonne wieder ordnungsgemäß an ihren Platz zurück, entschuldigte sich bei Patrick Lemke und ging beschwingt nach Hause. Nicht einmal Swetlanas bittere Vorwürfe konnten seinem Hochgefühl etwas anhaben.

      *

      Drei Monate später gab es Grund zum Feiern. Swetlana überraschte Philipp mit der freudigen Mitteilung, dass der Arzt ihre Schwangerschaft festgestellt habe. Noch

      sei es zu früh, Genaueres zu sagen, aber das Scanbild lasse den Rückschluss auf mehr als ein Baby zu.

      »Endlich muss ich mich nicht mehr wertlos fühlen, wenn andere Mütter mit ihren kleinen Kindern an mir vorbeistolzieren«, strahlte Swetlana erleichtert. »Und anscheinend werden es gleich Zwillinge, stell dir vor! Das ist prima, dann können die Geschwister von Anfang an miteinander spielen.«