Andrea Ross

Operation Terra 2.0


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weil dieser Kontinent nicht so stark mit dem Rest der Welt in diplomatische Querelen verstrickt ist. Man erkor ihn quasi als Testgelände aus. Außer den Unkenrufen von ein paar Verschwörungstheoretikern hat die Öffentlichkeit keine Notiz von den Vorgängen über ihren Köpfen genommen.«

      »Ich wiederhole: Unfassbar!«, kommentierte Zamor.

      »Das wahrhaft Erstaunliche daran ist, dass die Terraner um die Zerbrechlichkeit ihres ökologischen Systems wussten. Im Jahr 2030 haben sie die sogenannte DoomsdayClock auf eine Minute vor zwölf vorgestellt. Das ist die symbolische Uhr eines wissenschaftlichen Berichtsblattes über den Zustand der Welt, die der Öffentlichkeit verdeutlichen soll, wie groß jeweils das derzeitige Risiko einer globalen Katastrophe ist. Im Jahr 2015 stand sie noch auf fünf vor zwölf.«

      »Und das öffnete denen nicht die Augen, sondern man spielte sogar noch leichtsinnig an den Wettersystemen herum?«

      »Sie wussten es, Zamor, rannten mit offenen Augen in ihr Verderben. Die Belastungsgrenzen Terras wurden immer stärker tangiert. Sie hatten sogar einen Erdüberlastungstag festgelegt, und der trat jedes Jahr früher ein. Während die natürlichen, sich innerhalb eines Jahres regenerierenden Ressourcen Terras im Jahr 2016 noch Anfang August aufgebraucht waren, reichten sie 2030 lediglich bis Ende Juni. Ab diesem Jahr hätte man eigentlich bereits zwei Planeten von gleicher Größe und Beschaffenheit gebraucht, um eine ausreichende Lebensmittelproduktion zu gewährleisten sowie die Mittel für Wohnen und Brennstoffe zu gewinnen.

      Die Berechnung geht auf das Konzept des Ökologischen Fußabdrucks zurück, der besagt, wie viel Fläche benötigt wird, um sämtlichen Ressourcenbedarf inklusive der Energieversorgung zu stemmen. Die terrestrische Menschheit lebte also immer in der zweiten Jahreshälfte unbekümmert von den stillen Reserven Terras – bis diese eines furchtbaren Tages komplett aufgebraucht sein würden.«

      »Jedenfalls wäre das so gekommen, wenn sich die Erdbevölkerung nicht in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wesentlich reduziert hätte.«

      »Nichts vorweg nehmen, lieber Zamor. Einen Schritt nach dem anderen. Wir müssen Jahr für Jahr akribisch durchsehen um zu erkennen, weswegen es so und nicht anders kam. Auch unser eigenes Volk hat einst ähnliche Fehler auf dem Mars begangen, weshalb er bis vor kurzem unbewohnbar gewesen ist. Dem Menschen scheint der eigene Untergang bereits in die Wiege gelegt zu sein … das Omega ist im Alpha verborgen, verstehst du? Dem Aufstieg folgt stets der Niedergang, das unabwendbare Ende. Es fragt sich nur wann – und auf welche Weise es kommt. Danach beginnt ein neuer Zyklus.

      Es geht mir auch nicht nur um diesen Komplex. Wir haben in demselben Zeitraum ebenso zu studieren, wie die Europäische Union sich langsam auflöste, wie die Verhältnisse in Amerika sich Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts entwickelten und was in Syrien, der Türkei und in Korea vor sich ging. Wir dürfen keinesfalls terrestrischen Medienberichten oder gar der offiziellen Geschichtsschreibung trauen, sondern müssen uns mit dem gesunden Menschenverstand ein eigenes Bild von Ursache und Wirkung machen.

      Die Verantwortung lastet schwer auf meinen Schultern. Schon die allerkleinste Fehlinterpretation kann unsere impulsive Alanna zu weitreichenden Schritten treiben«, warnte Arden seinen in Violett gekleideten Schreiber und Geliebten. Manchmal verleitete Zamors Jugend ihn zu unangebrachter Oberflächlichkeit.

      *

      Über dem Regentenpalast gingen die zwei Monde Tiberias auf, das Zentralgestirn versank hinter dem Horizont. Für das jüngste Mitglied der Marsdynastie neigte sich damit der Tag dem Ende zu. Regent Kiloon geleitete seine sechsjährige Tochter in ihr Schlafgemach. Er konnte nur wenig Zeit mit ihr verbringen, doch das allabendliche Ritual ließ er sich nicht nehmen.

      Behutsam hob er die jüngere der beiden Alannas in ihre ovale Schlafkoje aus transparentem, zartgelbem Plantolaan. Kaum reagierte der im Boden verbaute Sensor auf ihr Gewicht, ertönte ein kaum vernehmbares Zischen. Unzählige kleine Düsen, die rundum von der Schulterhöhe bis zu den Zehenspitzen an der Innenverkleidung angebracht waren, verströmten eine bläuliche Gasmischung. Diese wog schwerer als Luft, duftete wie Lavendel und legte sich wie eine schützende, wärmende Hülle um den Körper des Kindes. Erst vor einigen TUN hatte diese innovative Lösung gewöhnliche Decken abgelöst. Sie garantierte eine stets gleich bleibende Körpertemperatur, lästiges Schwitzen oder Frieren in der Nacht gehörten damit der Vergangenheit an.

      »Vater, erzählst du mir zum Einschlafen eine Geschichte?«, gurrte die Kleine mit einem gewinnenden Lächeln. Der Tonfall erinnerte unangenehm an ihre gleichnamige Mutter, die, wenn sie etwas erreichen wollte, ganz ähnlich zuckersüß klang.

      Kiloon schüttelte den schauerlichen Gedanken ab. Er führte eine Zweckehe, die nichts mit einer liebevollen Beziehung gemein hatte. Genauer gesagt, hatte ihn die ältere Alanna quasi fest an den Eiern. Dieses selbst verschuldete Dilemma wollte er natürlich nicht an seiner süßen Tochter auslassen, somit nickte er und streichelte ihr zärtlich übers blonde Haar.

      Er erzählte dem Mädchen sehr gerne Geschichten, stets darauf achtend, dass diese einen lehrreichen Hintergrund enthielten. Vielleicht gelang es ihm ja auf diese schonende Weise, die künftige Imperiumserbin gegen die – zumeist selbstsüchtigen – Pläne ihrer Mutter zu konditionieren. Und doch fühlte er, dass sich die Vater-Tochter-Beziehung bereits in Nuancen veränderte. Alanna war kein Kleinkind mehr, würde in wenigen Jahren in die Pubertät kommen.

      »Bist du allmählich nicht schon ein bisschen zu groß für Gutenachtgeschichten?«, fragte er augenzwinkernd.

      »Überhaupt nicht!«, strahlte das Mädchen und schloss genießerisch die Augen. Kiloon brummte zufrieden.

      »Es war einmal … ein Volk aus glücklichen Menschen, die im Überfluss lebten. Sie besaßen nur das, was man zum Leben unbedingt braucht. Sie jagten Tiere und sammelten gemeinsam Beeren und Früchte. Abends saß man am Lagerfeuer zusammen«, begann Kiloon seine Geschichte.

      »Iiiiih«, schüttelte sich die Kleine. »Wir haben im Unterricht schon gehört, dass die Menschen früher Tiere aßen. Das finde ich eklig. Wie können sie dann aber glücklich gewesen sein?«

      »Sie kannten es nicht anders. Wir Menschen waren erst viel später in der Lage, uns die notwenigen Nährstoffe aus synthetischer Nahrung zu ziehen. Obst und Gemüse sind eben auf Dauer nicht ausreichend, um den Körper fit und gesund zu halten. Wenn man körperlich arbeitet, benötigt man viele Proteine«, erklärte ihr Vater geduldig.

      »Trotzdem! Tiere töten und sie anschließend essen, das könnte ich bestimmt nicht«, beharrte Alanna. Sie besaß denselben Dickkopf wie ihre Mutter.

      »Musst du ja auch nicht. Aber nun höre gut zu, wie es dem Volk in meiner Geschichte weiter erging. Im Laufe der Zeit vermehrten sich die Menschen immer weiter. Familien schlossen sich zu Clans zusammen, Clans zu Dorfgemeinschaften und diese wiederum zu größeren Siedlungen, die man später Städte nannte. Nun mussten sie sich um die Dinge des alltäglichen Lebens streiten, denn die Zeit des Überflusses war vorbei. Jeder wollte möglichst viel für sich selbst beanspruchen: Ländereien, Wasser, Jagdgebiete, Nahrung. Es entstand Konkurrenz, und hieraus resultierten kriegerische Konflikte.«

      »Dann war das aber ein sehr, sehr dummes Volk«, entschied Klein-Alanna selbstbewusst. »Sobald ein Mensch stirbt, darf ein neuer an seine Stelle treten, so lautet bei uns die Regel. Wie konnte es also passieren, dass auf einmal so viele existierten, dass sie sich sogar ums Essen streiten mussten?«

      »Damals gab es eine solche Regelung noch nicht. Die Familien entschieden selbst, wie viele Kinder sie in die Welt setzen wollten. Doch das war noch das kleinere Problem. Man erfand Maschinen, die den Leuten die Arbeit abnahmen und produzierte damit lauter Dinge, die im Grunde genommen überflüssig waren. Jedermann wollte das Zeug besitzen, für alles gab es Abnehmer. Je mehr Gegenstände man besaß, desto größer war das Ansehen.

      Zuerst tauschte man die Waren untereinander, später bezahlte man sie mit runden, glänzenden Metallstücken. Um wiederum diese Metallstücke zur Verfügung zu haben, musste man arbeiten – doch dies war immer weniger Menschen möglich, weil die Maschinen sie einen nach dem anderen ersetzten. Die Roboter erledigten die Aufgaben oft schneller