soll sich ihm aussprechen, nicht ich soll sie aus dem Eigenen beurteilen oder gar interpretieren. So kann man Steiner verstehen, der die Medizin eine großartige Erziehung zur Selbstlosigkeit nannte, was doch mit Blick auf unsere Gegen wart geradezu als paradox oder sogar widerlegt erscheint. Doch ist die von Steiner gemeinte Selbstlosigkeit unverzichtbare Voraussetzung einer christlichen Medizin, oder wie Paulus es aussprach „Nicht Ich, der Christus in mir“ (Galater 2,20) oder – wie ich es sehe, statt „in mir“ – „in meinem Ich“, das ja auch mein Selbst beschreibt. Sehen mit Christi Augen, hören mit Christi Herz bzw. Ohren setzt Selbstlosigkeit voraus (siehe Kapitel 10).
Menschenliebe
Selbstlosigkeit ist auch die Voraussetzung um lieben zu können. Dabei verstehe ich hier Selbstlosigkeit so, dass ich ein Selbst als Ich ausgebildet haben muss, welches ich zurückstelle, um bei dem anderen zu sein, ja vielleicht in seinen Dienst stelle, damit er durch mich werden kann, z.B. gesund. Dazu wieder ein Christuswort: „Liebe deinen Nächsten so wie dich selbst“ (Luk.10,25–28). Wer sich nicht selbst zu lieben lernte, wird auch nicht andere/anderes lieben können. Deshalb ist die Kindheit und Jugend auch eine so wichtige Zeit, das Selbst auszubilden und zu lernen, Ja zu sich zu sagen. Von außen angeschaut eine Zeit starker Egoität. Ich habe meine fünf Kinder in deren Kindheit oft liebevoll „meine kleinen Egoistentierchen“ genannt, denn dieser Egoismus ist noch nicht seelengebunden oder Ich-geprägt, sondern leibbildend. Der von Eltern und Vorfahren gebildete und vererbte – ich könnte auch sagen geschenkte – Leib (den Steiner auch so anschaulich Modell-Leib nennt), muss ja über zwei Jahrzehnte zu einem Individual-Leib werden, einem Leib, in dem jeder Ort, jede Flüssigkeit, alle Bewegung vom Ich ergriffen und einzigartig, unverwechselbar wird. Ein Geschehen, das wir dann abstrakt Immunsystem oder erworbene Immunität nennen. In den allerersten Anfängen meiner Lehrzeit zum Arzt, noch als Medizinalassistent vor der eigentlichen Approbation, durchfuhr mich beim Zuschauen einer äußerst ruppigen Blutentnahme aus einer Armbeugenvene, die der Chefarzt selbst durchführte (es war eine Privatpatientin), der fragende Gedanke: „Liebst du eigentlich den Menschen“? Womit mir schlagartig bewusst wurde, dass ich Arzt nur sein kann, wenn ich den Menschen liebe. Nicht den Einzelnen, sondern den einzelnen Menschen als göttliche Schöpfung. Da hatte ich Steiners Aussage noch nicht gelesen. Später las ich bei Carl Gustav Carus: „Jeder Mensch, ja jede Kreatur ist eine Idee Gottes. Und alle sind gleich wert“.15 Und damit sind wir bei der ethisch-moralischen Seite der Medizin, die heute nicht mehr vermittelt wird, die jedem selbst überlassen bleibt, die aber eine der beiden Hauptwurzeln einer christlichen Medizin ist.
Es war kein Ritual, wenn man den Arzt vor der Erlaubnis, den Beruf ausüben zu dürfen, den Hippokratischen Eid sprechen ließ. Es war ein Gelöbnis und zugleich Handlungsanweisung. Und es war das alle Ärzte verbindende ethisch-moralische Element. Mit Auslöschen der Hippokratischen Medizin, die zur Humoralpathologie verkommen war, wurde auch dieser Eid nicht mehr gesprochen. Heute kennt ihn wohl kaum noch jemand. Und nichts anderes, gemeinsam Verbindliches ist an seine Stelle getreten. Es ist erschütternd auszusprechen, dass sich die Medizin seit dem 20. Jahrhundert zunehmend in einem ethikfreien Raum bewegt. Tauchen ethische Fragen auf, wie z.B. die Definition des Hirntodes als endgültiger Tod des Menschen auch beim Fehlen „sicherer“ Todeszeichen (wie sie jeder Arzt im Studium lernte), werden für eine solche Einzelfrage Ethik-Kommissionen gebildet, in der keineswegs nur Ärzte, sondern auch andere Berufe, vor allem Juristen, mitwirken.
Eine Medizin ohne verbindende Ethik ist unchristlich. Denn das ganze Christentum ist getragen von einer Ethik, welche die zehn Gebote, die Moses vermittelte, zusammenfasst und übergreift in dem einen Gebot, das Christus uns gibt: „Liebet einander“ (Joh.15,12–13). So einfach das klingt, so unerfüllbar scheint dieses Gebot seit 2000 Jahren, heute mehr denn je, wo die apokalyptische Zeit des „Krieges Jeder gegen Jeden“ angebrochen scheint. Und dennoch: gerade weil es so aussichtslos scheint, muss an besonderen Stellen mit der Umsetzung dieses Gebots begonnen werden. Und wo wäre das naheliegender als in der Medizin? Vielleicht noch in der Pädagogik, viel unvorstellbarer dagegen in der Wirtschaft. Weil es so grundsätzlich ist, möchte ich einige Zeitphänomene erwähnen, um zu verdeutlichen, wo der Medizin eine verbindende Ethik fehlt bzw. welche Handlungsweisen sich in einem ethikfreien Raum einstellen.
Beispiele für eine ethikunabhängige Medizin
Jeder gesund empfindende Mensch wird mir zustimmen, wenn ich sage, dass ein maximales Gewinnstreben auf Kosten der kranken Menschen unethisch ist. Doch finden wir in allen Bereichen der Medizin ein Denken der Marktgesetze der Wirtschaft. Der Arzt Professor Giovanni Maio, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik an der Universität Freiburg, spricht von der Ökonomisierung der Medizin.16 Der Arzt will gut, lieber sehr gut leben durch seine Arbeit. Jahrzehntelang zählte tatsächlich der Arztberuf zu denen mit den besten Aussichten, viel Geld zu verdienen. Als das gesetzgeberisch immer mehr eingeschränkt wurde, erfanden die Ärzte die sogenannten IGEL-Leistungen, die nicht von Krankenkassen erstattet wurden und die der Patient selber zu zahlen hat. Dass die meisten von ihnen von zweifelhaftem Nutzen sind, zeigt ihren Hintergrund. Auch verbanden sich Ärzte mehr und mehr zu Betrügereien, indem Leistungen abgerechnet wurden, die gar nicht erbracht worden waren. Was dadurch leicht möglich ist, dass die meisten Patienten die Arztrechnungen gar nicht kennen. Sie gehen direkt an die Krankenversicherung. Erst kürzlich erlebte ich selber, dass von einem Orthopäden eine große neurologische Untersuchung abgerechnet wurde, die von ihm gar nicht durchgeführt worden war. Als ich den Arzt daraufhin ansprach, erklärte er, er käme nicht auf seine notwendigen Einnahmen, wenn er sich streng an die Gebührenordnung hielte. Was oft auch zutrifft, jedoch ein Systemfehler ist und nicht durch Betrügen korrigiert werden dürfte. Viele Leistungen werden wiederum erbracht, die gar nicht nötig waren, z.B. EKG- oder Röntgenuntersuchungen. Darauf angesprochen heißt oft die Antwort „Der Apparat muss sich amortisieren“. Und so könnte ich viele weitere Beispiele nennen, wie sie auch der erwähnte Professor Maio in seinem Buch beschreibt.
Die Medizingeräteindustrie gehört zu den Wirtschaftszweigen, die extrem am kranken Menschen verdienen. In Hamburg hat man errechnet, dass eine überschaubare Zahl von Computer-Tomografen ausreichend wäre, um die reale Zahl notwendiger Untersuchungen zu bewerkstelligen. Es waren jedoch zehnmal so viele Apparate aufgestellt. Auch ständig erhöhte Sicherheitsvorschriften steigern Umsätze. So mussten wir in unserem Krankenhaus über hundert noch relativ neue sogenannte Infusoren austauschen, weil sie ganz neu geschaffenen Sicherheitsvorschriften nicht mehr entsprachen. Sie hatten bis zu dem Zeitpunkt des Austausches immer tadel los funktioniert, ohne dass Sicherheitsprobleme auf getaucht waren. Das kostete viel Geld, das im Budget nicht vorgesehen war. Und wir durften die einwandfrei funktionierenden Geräte auch nicht ärmeren Ländern schenken, sie wurden eingezogen und vernichtet. Schließlich wollte man ja auch in diese Länder seine Waren verkaufen, wenn vielleicht auch zu einem niedrigeren Preis. Denn das ist auch so ein Phänomen: Das gleiche Arzneimittel kostet in verschiedenen Ländern unterschiedlich viel. In Deutschland z.B. können Medikamente hochpreisig verkauft werden. Sogenannte Reimporte wurden gesetzlich untersagt.
Die hohen Entwicklungskosten für ein neues Arzneimittel werden auf den Preis bei Markteinführung umgelegt. Das sind dann „innovative“ Arzneimittel, die patentrechtlich geschützt ohne Konkurrenz sind und von uns allen über die Krankenkassenbeiträge finanziert werden. Dabei steht überhaupt nicht fest, ob alle diese Arzneimittel eine Verbesserung in der Behandlung einer bestimmten Krankheit erbringen. Vorausgehende Untersuchungen und Studien haben Hinweise dafür ergeben. Ob sich das jedoch bei nun Tausenden von Kunden („Patienten“) bestätigt, wird erst in der breiten Anwendung erprobt, die nächsten Jahre werden es zeigen. Schlimmstenfalls müssen sie wegen schwerer Nebenwirkungen sogar wieder vom Markt genommen werden, möglichst jedoch erst, wenn sie die Entwicklungskosten eingespielt haben.
Arzneimittelhersteller der Komplementärmedizin haben praktisch nie die Geldmittel, um neue Arzneimittel z.B. der Phytotherapie zu entwickeln, was noch verstärkt wurde, als sie aus der Erstattungspflicht der Krankenkassen 2004 ausgeschlossen wurden. So entstanden Nahrungsergänzungsmittel, die in Wirklichkeit als Arzneimittel gedacht sind, die aber den strengen Kriterien des Arzneimittelgesetzes nicht unterworfen wurden, z.B. der erwiesenen Wirksamkeit und Unbedenklichkeit.
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