Volker Fintelmann

Die Wiedergewinnung des Heilens


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voneinander wussten, verordneter Medikamente. Und natürlich gehören auch Kunstfehler der Ärzte und anderer medizinischer Berufe dazu. Für Deutschland gibt es keine exakt ermittelten Vergleichszahlen, man geht von etwa 40 000 Todesfällen aus. Und das wird als unvermeidbar oder fast selbstverständlich hingenommen, kein Aufschrei erfolgt, kein Entsetzen. Geschähe so etwas im politischen Raum, würde wohl von Völkermord gesprochen. Und das Entsetzliche daran ist, dass sich solche Zahlen jährlich wiederholen. Das Ganze geht nur weil als common sense offenbar gilt, dass die Medizin eben nicht nur nutzt, sondern auch schadet. Deshalb musste das „Nil Nocere“, dass der Arzt dem Kranken nicht Schaden zufügen dürfe, mit dem Hippokratischen Eid verschwinden. Die Medizin macht sich nicht mehr dafür verantwortlich, und der betroffene Mensch hat eben Pech gehabt, so ist die Wirklichkeit. Ich halte das für zutiefst unethisch.

      Ein letzter Blick noch auf die Krankenversicherungen. Die sogenannten gesetzlichen Krankenkassen (GKV) wurden in der Regierungszeit von Bismarck gegründet, um den Ärmsten der Armen auch eine Krankenbehandlung zu sichern, die bis dahin Arzt oder Spital nicht bezahlen konnten. Manche wurden durch Armenärzte aufgefangen, die diese Arbeit freiwillig und oft ohne Bezahlung leisteten. Die Reichsversicherungsordnung wurde als Solidarleistung der Gesellschaft gesehen, vor allem die Arbeitgeber mussten sich an den Beiträgen beteiligen, denn viel Krankheit und Elend entstand auch durch die Arbeitsbedingungen. Man denke nur beispielhaft an die Kohlebergwerksarbeiter und ihre Staublungen. Mehr und mehr wurde die GKV eine Zwangsversicherung, in die alle bis auf einen kleinen Anteil solcher Bürger einzahlen mussten, die sehr hohe Einkünfte hatten. Bis heute wird eine „Solidargemeinschaft“ beschworen, die längst nicht mehr existiert. Stattdessen ist eine Selbstbedienungsmentalität entstanden. Der Versicherte sagt etwa: „Ich muss doch wenigstens soviel wieder herausholen wie ich eingezahlt habe“, die Ärzte und andere medizinische Berufe feilschen um höhere Vergütungen, die Versicherungsgesellschaften bauen große Paläste, die Vorstände verdienen Jahresgehälter, die meist höher als das unserer Bundeskanzlerin sind. Und nirgendwo entsteht eine gemeinsame Verantwortung, mit dem Geld aller sorgsam umzugehen und auch nur zu fragen, was der Bürger eigentlich von diesem „seinen“ Geld erwartet. Über 70 Prozent aller Deutschen wünschen sich z.B. die Behandlung mit komplementärer Medizin, deren Arzneimitteln, deren besonderen Angeboten wie Kunsttherapien, Physiotherapien, besonderen Massagen oder modernen Pflegetherapien. Darauf wird jedoch überhaupt nicht eingegangen. Stattdessen hat man fast alle Arzneimittel der Komplementärmedizin aus der Erstattungsfähigkeit der GKV ausgeschlossen. Menschen, die solche Arzneimittel für sich wollen, müssen sie aus der eigenen Tasche bezahlen, oft mehrere hundert Euro im Monat. Und wenn das Geld, mit dem in den angesprochenen Bereichen verschwenderisch umgegangen wird, nicht mehr reicht, werden eben die Beiträge erhöht, und falls das wegen bevorstehender Wahlen nicht opportun ist, werden Leistungen ausgegliedert, Selbstbeteiligungen kreiert oder Kosten „gedeckelt“ (z.B. Arzneimittelkosten). Auch in dem gesamten System der GKV fehlt jegliche Art ethischer Einflussnahme, jeder sucht für sich einen größtmöglichen Anteil aus dem Gesamttopf herauszunehmen, die Haie viel, die kleinen Fische weniger (was in ihrer Masse aber noch mehr bedeutet).

      Längst hätte entdeckt werden können, dass eine Gesellschaft, die sich auf eine freie Marktwirtschaft stützt, völlig andere Formen einer Krankenversicherung braucht, eher eine Haftpflicht- (siehe Kraftfahrzeugversicherungen) als eine überholte Solidaritätsversicherung. Denn eine Gesellschaft der Solidarität im Allgemeinen sind wir nicht! Wir denken nicht nach dem christlichen Motiv „Was ihr einem meiner geringsten Brüder angetan habt, das habt ihr mir getan“ (Matth.2,40). Und vor allem handeln wir nicht danach.

      Schauen wir nun auf die Aufgabe, im Namen einer christlichen Medizin die geschilderten Verhältnisse wieder in eine ethisch-moralische Haltung einzubetten und sie damit neu zu gestalten, dann wird eine erste grundsätzliche Notwendigkeit ganz deutlich: Die Veränderungen müssen von Einzelnen ausgehen, von jedem von uns! Das grund-christliche Motiv ist die Nächstenliebe, und aus ihr kann ich eine neue Medizin entwickeln. Und das heißt an erster Stelle Selbsterziehung, und davor noch Selbsterkenntnis. Jeder müsste sich fragen, inwieweit er durch sein Verhalten an der Misere mitgewirkt hat. Habe auch ich als Arzt Leistungen manipuliert, mir ein Arzneimittel besorgt, das ich brauchte, im Austausch mit einem, das auf dem Rezept stand, das ich aber nicht wollte? Oder als Patient: Habe ich mich krankgemeldet, obwohl ich hätte arbeiten können?

      Die Zulieferer der Medizin, an erster Stelle die Arzneimittelhersteller, müssen sozialisiert werden, womit ich meine: Ihnen muss klar werden, dass ihr Platz in der Gesellschaft ein dienender ist, dass sie im Dienste des krank gewordenen Menschen arbeiten müssten, ihn nicht als Kunden missverstehen, durch den der Gewinn des Unternehmens maximiert werden kann. Die Gewinne der Hersteller müssten Stiftungen zufließen, durch die wiederum medizinische Forschung gefördert werden kann. Es müssten Präventionsprogramme finanziert werden, um sich von einem Motto für das 21. Jahrhundert leiten zu lassen, das ich so formulieren möchte: „Es muss immer wichtiger werden, Gesundheit zu erhalten, als Krankheiten zu behandeln“. Es muss eine präventive Medizin ausgearbeitet werden, die diesen Namen verdient, die sich nicht in Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen erschöpft, sondern mit der Gesundheitserziehung schon in der Kindheit beginnt. Welche die Arbeitswelt so gestaltet, dass nicht immer mehr Menschen wegen „psychischer Ursachen“ (deren wichtigste wohl das weite Feld der Depressionen ist) „krankgeschrieben“ werden müssen. Wir müssen Arbeit wieder als zentralen Anteil eines gesunden Menschenseins definieren, dürften als solidare oder eben christlich-geprägte Gesellschaft Jugendarbeitslosigkeit überhaupt nicht zulassen, müssten ein Recht auf Arbeit festschreiben.

      Doch zum Anfang zurück: Diese Veränderungen können nur von Einzelnen ausgehen, jeder von uns kann damit anfangen. Und das Element der Liebe kann uns dabei leiten. Liebe zu uns selbst, zu unserem uns so treu ein Leben lang dienenden Leib, den wir zu pflegen lernen müssen, dem wir zu danken lernen müssen. Liebe auch zu unserem Nächsten, Liebe zur Natur und zur ganzen Erde und letztlich auch zu den göttlichen Kräften, die uns, die Welt, ihre Gesetzmäßigkeiten geschaffen haben und ihren Blick auf alles gerichtet halten, auf dass es Zukunft habe, im Zentrum den Menschen als eine einmal gedachte Krone der Schöpfung. Christus hat die Liebefähigkeit in unsere Welt getragen, er ist substanziell Liebe und durch ihn in Verbundenheit mit der Menschheit kann die Erde zum Planeten der Liebe werden.17

      Hier möchte ich wieder zurücklenken auf die Medizin und meine Blickrichtung als Arzt, dem Menschenliebe als die zentrale Kraft, aber auch als Befähigung für seinen Beruf notwendig ist. Aus der Kraft vieler Einzelner wird immer mehr Kraft für das Ganze entstehen. Das wird dauern, nicht schnell gehen, aber es wird Veränderungen bewirken, wie sie schon heute erlebbar sind. Es gibt ein reales Bild dafür: Ein steter Tropfen höhlt den Stein.

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