Honorar zu bestimmen, und ich dächte …«
»Mein Freund«, sprach der Greis schmerzlich lächelnd, »dass meine Gedanken, die vierundzwanzig Jahre im Gefängnis mit mir begraben lagen, sich frei in das Volk ergießen und endlich das Ziel erreicht haben, das ich erstrebte, das ist mein schönster Lohn, ich begehre keinen andern!«
»Aber Ihre Lage, Ihre Krankheit …«
»Sorgen Sie sich nicht«, fuhr Wilibald fort, »ich bedarf nur wenig, und dies wenige wird mir als ein Almosen zugesendet. Ich fürchte nicht, dass der Geber ermüdet, denn wie lange noch werde ich seiner Menschenfreundlichkeit bedürfen? Sie wundern sich – ja, ja, ich besitze noch Stolz! Werke, wie diese«, rief er aus, indem er das Buch emporhielt, »kann nur das Bewusstsein, sie gefertigt zu haben, belohnen! – Wer ist der Präsident Ihres Vereins?«, fragte der Kranke nach einer Pause.
»Ich darf ihn Ihnen nennen«, war die Antwort, »denn wir betrachten Sie als unser Mitglied, obgleich wir bis jetzt Gründe hatten, unsere Tätigkeit nur heimlich auszuüben. Der Präsident ist der General von B.«
»Wie, der General von B.?«
»Kein anderer – er ist ein aufrichtiger Volksfreund!«
»Warum aber«, fragte der Greis bedenklich, »tritt er mit seinen Gesinnungen nicht offen ans Licht hervor?«
»Dieser Augenblick wird durch Ihr Werk vorbereitet«, entgegnete der Fremde, »und glauben Sie mir, er ist nicht mehr fern.«
»Gott gebe es!«, sprach Wilibald.
»Ich verlasse Sie«, fuhr der Fremde fort, indem er die abgemagerte Hand des Kranken ergriff, »um Sie nicht länger durch meine Unterhaltung anzustrengen; doch erlauben Sie mir, Ihnen diesen Ring zu hinterlassen. Sollten Sie in irgendeiner Beziehung der Hilfe des Generals bedürfen, so senden Sie ihm dieses Zeichen und Sie können der Erfüllung Ihrer Wünsche gewiss sein.«
»Ich nehme den Ring«, antwortete der Greis, »doch nicht, um mich seiner zu dem angegebenen Zweck zu bedienen, sondern als Andenken an den Mann, mit dessen Hilfe ich mein Büchlein der Welt übergeben habe. Aber eine Bitte könnten Sie mir noch erfüllen!«
»Reden Sie!«, rief der Unbekannte rasch.
»Legen Sie den Ring und das Buch in den Kasten jenes Tisches; dann verschließen Sie ihn und reichen mir den Schlüssel.«
Der Mann erfüllte den Wunsch des blinden Greises.
»Ich danke Ihnen, mein Herr«, sprach dieser, indem er den Schlüssel empfing und ihn unter dem Kopfkissen seines Bettes verbarg. Ich möchte meinen jungen Nachbarn, der mich pflegt, nicht gern zum Mitwisser eines Geheimnisses machen, das im ungünstigen Fall – den wir doch fürchten müssen – Unglück über alle Beteiligten bringen kann. Weiß außer Ihnen noch jemand, dass ich der Verfasser des Buches bin?«
»Nur der Genosse Ihrer Gefangenschaft, dem der General die Mitteilung Ihres Manuskriptes verdankt. Für seine Verschwiegenheit glaube ich mich verbürgen zu können.«
»Ich zweifle nicht einen Augenblick daran, denn ich kenne ihn.«
»Leben Sie wohl, Herr Wilibald, und bald schon, so hoffe ich, werde ich Sie in einem freien Land begrüßen!«
»In dem Land der ewigen Freiheit!«, murmelte der Greis, indem er erschöpft in sein Bett zurücksank.
Der fremde Mann hatte das Dachstübchen verlassen und schloss leise die Tür hinter sich. Nach einigen Minuten war der kranke Wilibald eingeschlummert.
Um dieselbe Zeit wurde in Richards Zimmer ein Brief abgegeben. Während der junge Mann ihn öffnete und las, trat seine Mutter aus dem Schlafgemach. Eine ungewöhnliche Heiterkeit sprach sich in dem Gesicht der armen Frau aus, aber eine Heiterkeit, die nicht aus dem Herzen kam, sondern durch eine fixe Idee des kranken Geistes erzeugt wurde.
»Guten Morgen, Richard«, sprach sie freundlich und reichte dem über den Inhalt des Briefes Bestürzten die Hand. »Was enthält dieser Brief?«, fragte sie nach einer Pause.
Er enthält für die Witwe Bertram und ihren Sohn die Weisung, die Dachwohnung zu räumen, da seit sechs Monaten kein Mietzins bezahlt sei.«
»Wie«, rief die Mutter und schlug ein schallendes Gelächter an, dass dem Sohn das Herz erbebte, »wie, man will uns aus dieser Wohnung vertreiben? Und warum? Das Zimmer gefällt mir, die Aussicht ist schön – ich möchte den sehen, der mich aus meinem Zimmer vertreiben wollte!«
»O mein Gott«, murmelte Richard, indem er voll Ingrimm den Brief zerdrückte, »welcher Nachteil kann dem reichen Hausbesitzer, der im Überfluss schwelgt, daraus erwachsen, dass er von uns armen Menschen die elende Summe noch nicht erhalten hat? Ein Paar Flaschen Champagner weniger, der Verlust wäre ausgeglichen und wir armen Menschen hätten ein Obdach! Meine arme, arme Mutter!«
»Richard«, sprach Frau Bertram plötzlich, »und wenn wir nun diese Wohnung verließen, wer würde für den blinden Greis sorgen? Schreibe noch in diesem Augenblick dem Besitzer dieses Hauses, dass wir auf keinen Fall ausziehen werden. Hörst du? Auf keinen Fall!«
»Beruhigen Sie sich, liebe Mutter, wir haben noch vier Wochen Zeit; bis dahin werde ich diese Angelegenheit hoffentlich geordnet haben; wir bleiben in unserer Wohnung. Ich arbeite an einem Werk, über das ich bereits mit einem Verleger verhandelt habe; mir steht ein gutes Honorar in Aussicht; gönnen Sie mir nur Muße, dass ich arbeiten kann.«
Schweigend küsste Frau Bertram ihren Sohn auf die Stirn, dann ging sie in das kleine Schlafgemach zurück. Richard setzte sich an den Tisch und ergriff die Feder. Doch schon nach einigen Minuten erschien die arme Frau wieder mit leuchtenden Augen und rief:
»Was arbeitest du, Richard? Ein Gedicht oder eine Tragödie? Ich wollte, du schriebest eine Oper! Ach, wie schön ist eine Oper«, fuhr sie fort, und die seltsam glänzenden Augen verrieten die Erinnerung, die in ihr aufstieg, »ach, wie schön! Tausend Kerzen brennen in dem prachtvollen Saal, schöne Frauen, mit glänzenden Diamanten geschmückt, schwingen ihre bunten Fächer, elegante Herren setzen ihre goldenen Gläser ans Auge und blicken durch den blendenden Raum – jetzt hebt sich der Vorhang, eine köstliche Musik durchdringt die Seele, liebliche Gesänge erschallen und reizende Tänze vollenden den Rausch der Sinne. Da flüstert eine Stimme in das trunkene Ohr: ›Das ist die Welt, für die du geboren bist, das ist der Kreis, dem du angehören sollst! Warum willst du deine Jugend unter den Launen eines tyrannischen Mannes verseufzen? Du kannst die Palme der Schönheit erringen, kannst glücklich sein und die Freuden des Lebens genießen; sprich ein Wort, und deine Leiden sind zu Ende!‹ – Nein, nein«, schrie die arme Wahnsinnige plötzlich in grellen Tönen, »nein, reißt mich fort aus diesem Saal, löscht die Lichter aus, dass niemand meine Schande sieht! Richard, Richard, führe mich weit, weit weg von hier!«
»Mutter, Mutter«, rief der junge Mann unter Tränen, indem er die Kranke auf einen Stuhl niederließ, »beruhigen Sie sich, ich schreibe keine Oper. Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?«
»Du schreibst keine Oper?«, fuhr Richards Mutter mit einem wahnwitzigen Lächeln empor, »umso besser! Schreibe ein Trauerspiel, hörst du, ein Trauerspiel – ich werde dir den Stoff dazu erzählen.«
»Mutter!«
»Höre mich an: Eine junge Frau, ein unglückliches Geschöpf … war ihres Verstandes beraubt … durch die nichtswürdigsten Mittel … durch List, Versprechungen, Betrug! Die Verblendete glaubte dem elenden Lügner, ihr schwaches Herz wurde besiegt und erlag. Da tritt plötzlich ein Mann ins Zimmer … und wer ist dieser Mann? … der Gatte des schändlichen Weibes, der Gatte, der den Nebenbuhler bei seiner entehrten Frau erblickt! … Die Degen blitzen, Schlag fällt auf Schlag … haltet ein, zu Hilfe! Ermordet mich, ich bin die Schuldige! … Es ist zu spät; die Vorsehung zieht ihre Hand von dem Unschuldigen zurück und schirmt den Schuldigen … er sinkt und mit dem strömenden Blut entflieht sein Leben!«
»O mein Gott, immer noch dieses verhängnisvolle Bild!«, schluchzte Richard, dem vor Schmerz das Herz zerspringen wollte. »Hat die Arme noch nicht genug gebüßt? Mutter, Mutter!«
Mit