August Schrader

Schicksalspirouetten (Gesamtausgabe)


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Seufzer sie aufmerksam lauschte, rief sie:

      »Still, er öffnet noch einmal sein sterbendes Auge … er redet … hörst du … das ist mein Urteil … das Urteil der Mörderin!«

      »Mutter, denken Sie nicht mehr daran, vergessen Sie diese verhängnisvolle Begebenheit!«

      »Wie, ich soll den Fluch vergessen, der mich hier auf der Erde unglücklich gemacht hat und mich auch noch über das Grab hinaus verfolgen wird? Rede nicht davon, mein Sohn, dieser Fluch kennt keine Grenzen, er ist ewig wie die rächende Gottheit! Sieh, du bist mein Sohn, auch dich hat er getroffen – du bist unschuldig, aber unglücklich wie ich, die Schuldige!«

      »Machen Sie mich glücklich, meine Mutter, und nennen Sie mir den Namen jenes Mannes, der meinen Vater ermordet und, indem er Sie verließ, seiner Nichtswürdigkeit die Krone aufgesetzt hat. Nennen Sie mir den Namen«, fuhr der junge Mann wutknirschend fort, »dass das Leben ein Interesse für mich hat! Den Namen dieses Nichtswürdigen; ich räche meinen Vater und Sie! Den Namen, Mutter, den Namen!«

      »Den Namen?«, sprach Frau Bertram, indem sie die Hand an die Stirn legte, als ob sie sich besinnen wollte. »Den Namen … warte einen Augenblick, ich weiß ihn … dort steht er mit schwarzen Buchstaben … der Mörder deines Vaters heißt Ferdinand von B.!«

      Richard fuhr bei Nennung dieses Namens erschrocken zurück, denn er gehörte einer adeligen Familie an, die im ganzen Land geachtet und geschätzt wurde und bei Hofe in großem Ansehen stand.

      »Ferdinand von B.?«, fragte er noch einmal, als ob er seinen Ohren nicht traute. »Mutter, sollte der Elende sich diesen Namen nicht beigelegt haben, um den seinigen zu verbergen? Der Name war falsch!«

      »Ich glaube es auch, mein Sohn, denn ich sah Ferdinand einst in einer glänzenden Karosse durch die Straßen fahren. Meiner Sinne beraubt durch diesen Anblick, werfe ich mich vor die Pferde … es entsteht ein großer Lärm … eine blutige Wolke verschleiert meine Blicke … ich fühle nichts mehr. Als ich erwachte, befand ich mich in meiner Wohnung, und mein Kind, mein armes Kind, das ich umarmen wollte, war nicht mehr da; es war in dem Gedränge verschwunden … ich habe es nie wiedergesehen!«

      Ein Tränenstrom entstürzte den Augen der Armen, als sie diese Worte gesprochen hatte; laut schluchzend sank sie zur Erde nieder und lehnte ihren Kopf auf den harten Holzstuhl, der neben ihr stand. Der junge Mann warf sich erschüttert über seine Mutter, hob sie langsam empor und legte ihr bleiches Haupt an seine Brust. Nach einigen Augenblicken machte sich auch Richards Schmerz durch Tränen Luft – er vermochte nicht zu trösten, er konnte nur weinen.

      »O mein Bruder, mein armer Bruder!«, rief er und schloss die kranke Mutter fester an seine Brust. Es war das erste Mal, dass er diesen Namen nannte; das Mitleid mit der Qual seiner Mutter hatte ihm diese Worte unwillkürlich entrissen, aber sie übten einen wohltätigen Eindruck auf die arme Geisteskranke aus, denn kaum hatte sie diese vernommen, als sie sich mit einem freudigen Lächeln emporrichtete und mit weicher Stimme sprach:

      »Mein Sohn, du entziehst ihm den Brudernamen nicht, gedenkst seiner nicht mit Hass?«

      »Wie könnte ich meinen Bruder hassen?«, rief dieser mit Leidenschaft. »Trägt er die Schuld an den Verbrechen seines Vaters? Fließt nicht Ihr Blut in seinen Adern, hat uns beide nicht dieselbe Brust genährt? Ich würde ihn vielleicht weniger geliebt haben, wenn sein Vater ihn zu sich genommen und ihm eine glänzende Stellung in der Welt angewiesen hätte; aber sein Schicksal ist vielleicht noch trauriger als das meinige – er ist mein Bruder durch das Unglück und durch die Bande des Blutes!«

      »Und ich bin Schuld an unserer Trennung«, sprach Frau Bertram, den trüben Blick gen Himmel gerichtet, »o mein Gott, verzeihe mir! Was wohl aus dem armen Kind geworden ist? Allein, von aller Welt verlassen in dieser ungeheuren Stadt, ist es vielleicht ein Opfer der Kälte und des Hungers geworden; vielleicht hat es mich schon bei Gott verklagt!«

      »Mut, meine Mutter, Mut, der Himmel zürnt nicht ewig; die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft ruht fest in meiner Brust!«

      In diesem Augenblick ließ sich Trommelwirbel und das laute Schreien: »Was gibt es?« in der Straße vernehmen. Mutter und Sohn fuhren überrascht empor.

      »Was bedeutet das?«, fragte die Frau, indem sie zum Fenster trat.

      »Es wird Generalmarsch geschlagen«, rief Richard, »ein Zeichen, dass den Freiheiten des Volkes Gefahr droht. Hören Sie, Mutter, jetzt schmettern auch die Hörner der akademischen Legion und rufen zu den Waffen. Die Reaktion streckt von Neuem ihren Arm aus, das Volk von der Höhe herabzuschleudern, auf die es sich durch Mut und Blut geschwungen hat; die Großen dieser Erde fürchten, dass es zu mächtig wird und ihnen völlig die Geißel entreißt, die sie seit Jahrhunderten tyrannisch geschwungen haben – ha, schmettert nicht zu laut, des Volkes Schlaf ist nicht fest, es schlummert nur, denn es kennt die Arglist seines Feindes!«

      Bei diesen Worten hatte der junge Mann sich eilig die Uniform angezogen, das Seitengewehr um seinen schlanken Leib geschnallt und die Büchse von der Wand genommen. Doch plötzlich legte er die Waffe wieder aus der Hand, warf den Hut mit der schwarzen Feder auf den Tisch und sah betrübt seine Mutter an, die sich wie ein Kind über den schmucken Soldaten freute.

      »Nun, Richard, willst du nicht gehen?«

      »Ich kann nicht, Mutter!«

      »Du kannst nicht? Was hält dich ab?«

      »Sie sind krank, meine Mutter, und da soll ich Sie allein lassen?«

      »Wer sagt dir, dass ich krank bin? Nimm deine Waffen und geh, wohin die Pflicht dich ruft!«

      Ein leises Klopfen im Zimmer des blinden Nachbarn unterbrach die eingetretene Pause und deutete Richard einen neuen Grund seines Bleibens an.

      »Ich kann nicht«, rief er schmerzlich, »denn der kranke Greis, dessen einzige Stütze ich bin, würde ohne Pflege bleiben!«

      »Geh, Richard, ich pflege den Kranken«, rief die Mutter mit glühenden Augen, »ich bleibe bei ihm, bis du wiederkehrst!«

      »Und wenn ich nun nicht wiederkehre?«, fragte der Sohn betonend.

      »Wenn du nicht wiederkehrst?«, wiederholte Frau Bertram leise, als ob der Gedanke an die Möglichkeit dieses Falles sie der Sprache beraubte. »Du hast recht«, fügte sie hinzu, »bleibe hier!«

      »Ich gehe zu unserm Nachbarn, um zu sehen, was er verlangt; bleiben Sie ruhig hier, meine Mutter.«

      Als Richard die Tür öffnen wollte, um sich zu entfernen, erhob sich Frau Bertram hastig, ergriff die Hand ihres Sohnes und führte ihn ins Zimmer zurück.

      »Mein Sohn«, rief sie mit fester Stimme und festen Blicken, als ob sie plötzlich den vollen Gebrauch ihres Verstandes wiedererlangt hätte, »mein Sohn, sagtest du nicht, die Freiheit des Volkes sei in Gefahr, die Großen dieser Erde wollten von Neuem ihre Geißel schwingen?«

      »Das sagte ich«, antwortete Richard ruhig.

      »Wohlan denn, Richard, wenn ihnen dies nun gelänge? Wer war es, der den Namen des Buben wissen wollte, der unser Unglück herbeigeführt hat – wer war es, der ihn wissen wollte, um den nichtswürdigen Frevel an ihm zu rächen? Nimm deine Waffen und gehe, denn wie keiner bist du berufen, dem Übermut der Großen entgegenzutreten, da einer aus ihrer Mitte deinen Vater gemordet und das Glück deiner Familie zertrümmert hat. So geh denn und räche deine Mutter!«

      Der junge Mann erbebte am ganzen Körper. Lauter und immer lauter wirbelten die Trommeln und schmetterten die Signalhörner durch die Straße; der Lärm der zusammenströmenden Menge und der zu ihren Sammelplätzen eilenden Wehrmänner wurde mit jedem Augenblick größer; alles rannte und schrie durcheinander. Aus dem Chaos von Stimmen drangen deutlich die Worte herauf:

      »Es rücken Soldaten heran, um die akademische Legion aus der Aula zu vertreiben und zu entwaffnen!«

      »Mutter«, rief Richard, als er diese Worte vernommen hatte, »Sie haben recht, ich muss fort! Gelingt den Feinden dieser Anschlag, sind wir verloren; man wird uns noch schwerere Fesseln schmieden, als wir bis jetzt getragen