A. F. Morland

Liebesheilung: 7 Arztromane großer Autoren


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Die Mädchen waren in Tinas Alter. Väter und Kinder waren wie Feuer und Wasser.

      Ob er mit Tina dann immer noch im Herbst auf die Höhe spaziert und Drachen steigen lässt? Und die andere mitnimmt?

      Es schmerzte, daran zu denken.

      Wie würde die andere reagieren, wenn die beiden über frisch umgebrochene verregnete Äcker liefen, bemüht, den Drachen hochzubringen, und dann wie die Wildschweine aussehend nach Hause kamen, dampfend, verschwitzt, ermüdet, aber mit leuchtenden lachenden Augen?

      Und ob sie wohl die Einrichtung des Hauses so ließ? Oder ob sie alles umräumte?

      Ganz bestimmt warf sie die persönlichen Gegenstände der Vorgängerin hinaus, bis nichts mehr an sie erinnerte.

      Und dann bin ich einfach ausgelöscht? Nichts soll mehr die Gedanken dann und wann noch auf mich lenken?, dachte sie erschrocken.

      Ein Zorn auf die unbekannte andere erwuchs, gepaart mit leiser Wehmut.

      Wenn sie Walter ganz für sich einnahm, sein gesamtes Denken ausfüllte und allmählich ihr Bild aus seinem Herzen verdrängte? Und nicht gut zu Tina war?

      Sie klappte langsam das Buch zu und überlegte.

      Mach dich nicht verrückt, hatte Hermann am Telefon gesagt. Der hatte gut reden! Als Arzt war er sogar verpflichtet, Optimismus zu verbreiten. Der dachte vielleicht nur, dass sie ein weiterer medizinischer Fall war. Wie es aber in ihrem Herzen aussah, das interessierte ihn nicht.

      Sie war ungerecht und merkte es kaum.

      Ihr Blick fiel auf das Regal. Bücher waren umgekippt. Die Fotoalben standen schief.

      Die Alben! Die Bilder!

      Die konnte die andere Walter nicht nehmen. Er blätterte gern in den Alben. Früher hatte er viel fotografiert. In den letzten Jahren weniger. Schnappschüsse von Tina. Beim ersten Urlaub am Meer. Meist Dias.

      Wenn er eine gute Stunde hatte, kramte er den Projektor heraus und ließ die Diakassetten durchlaufen.

      Einige Dutzend Bildstreifen waren noch nicht geschnitten und in die Rähmchen gesteckt. Er hatte sich vorgenommen, diese Arbeit an den langen Winterabenden zu machen.

      Das war jetzt drei Jahre her. Dieser Tage erst waren ihr die Taschen mit den Bildstreifen in die Hände geraten.

      Er war nicht zum Rahmen gekommen. Aber wenn sie es machte? Sie hatte doch Geschick dazu.

      Dann hatte er ein paar Bilder mehr von ihr in seiner Diasammlung. Erinnerungen.

      Sie hoffte, dass es gute, schöne Erinnerungen waren.

      Und dass er nie zuließ, dass die Dias entfernt wurden.

      In seinem Arbeitszimmer standen zwei Kartons leere Rähmchen. Sie holte sie, räumte den Tisch ab, suchte die Bildtaschen und begann zu schnippeln.

      Eine Unrast überkam sie, der Wunsch, all die Reisen mit ihm noch einmal zu machen, die sie gemeinsam unternommen hatten.

      Leise Wehmut mischte sich unter ihre Gedanken. Es war zu spät.

      Aber die Bilder konnte sie betrachten.

      Sie schaffte den Projektor herbei, kam mit dem Gerät nicht klar. Walter hatte ihr oft gezeigt, wie die Kassetten eingeschoben wurden, hatte ihr eingeschärft, dass die Dias auf dem Kopf stehend eingeordnet werden mussten.

      Sie gab ihr Bemühen auf und holte die Alben.

      Bilder aus der Zeit, als sie miteinander gingen.

      Ferien am Meer – Italien, Frankreich, Rumänien. Die Reise nach Griechenland.

      In drei Alben hatte er noch die Bilder mit Unterschriften versehen, Eintrittskarten mit eingeklebt, Erinnerungen an besondere Begebenheiten. Dann war er auch dazu nicht mehr gekommen. Er hatte sich nur vorgenommen, es irgendwann nachzuholen.

      Bei diesem Vorsatz war es geblieben.

      Das Seidenpapier zwischen den Bildseiten raschelte leise.

      Eva-Maria saß, blätterte und schaute sehnsüchtig auf die Zeugen ihrer herrlichen, manchmal etwas unruhigen Jahre mit Walter, und ihre Gedanken gingen zurück.

      Zurück in eine Vergangenheit, die vielleicht bald ausgelöscht war.

      7

      Kentenich knetete und bekniete seine Zuhörerschaft über Stunden. Seine Argumente wurden nicht dadurch besser, dass er sie immer wieder vortrug. Zum Schluss war seine Stimme heiser und krächzend vom konsumierten Kaffee.

      Dumpfe Resignation überkam den Mann.

      Dieser verdammte Becker mit seinem Desinteresse an den angestrebten Neuerungen, das er durch hartnäckiges Schweigen dokumentierte, versaute die anderen Abteilungen.

      Niemand ging zwar mit fliegenden Fahnen zu Becker über, niemand zollte aber ihm, dem Geschäftsführer, dem verlängerten Arm der Firmenleitung, gebührenden Beifall. Auch der Verkauf nicht.

      Irgendwie zeigte Beckers Hinweis auf das Programm Wärmepumpen Wirkung.

      Kentenich wischte sich die Stirn ab, knüllte das Taschentuch zusammen und starrte jeden in der Runde an.

      „Darf ich nun um die Meinung bitten?“ Seine Stimme hatte einen bittenden, beschwörenden Beiklang.

      Vor zwei Stunden, als er schon mal einen Anlauf genommen hatte, war es noch die „geschätzte“ Meinung gewesen.

      Beckers Kopf ruckte noch. „Völlig indiskutabel, diese Vorschläge.“

      Kentenich ächzte. „So geht das nicht. Wir müssen zu einem Ergebnis kommen. Also?“ Sein Kugelschreiber tickte auf die Tischplatte, ein herausforderndes Geräusch.

      „Meine Meinung kennen Sie. Ich sehe keinen plausiblen Grund, sie zu ändern.“

      Sogar vom Verkauf nickten zwei Mann und bekundeten Zustimmung.

      Kentenich rang um Fassung. Das war unerhört!

      „Wir müssen diese Woche zu einem Abschluss kommen, meine Herren. – Gut, überdenken Sie das Problem. Ich werde die Geschäftsleitung hinhalten, und wir sehen uns morgen wieder hier. Um neun.“ Wütend raffte er seine Unterlagen zusammen, verstaute sie in der Mappe und trippelte mit kleinen Schritten wie eine kurzsichtige Ziege hinaus.

      Jemand klopfte Walter Becker auf die Schulter. „Na ja, wir müssen wohl in den sauren Apfel beißen.“

      „Guten Appetit denn!“, wünschte eine hämische Stimme.

      Walter Becker zog den bekritzelten Verteilungsplan heran, warf einen Blick darauf und schob ihn Olga Finkenschläger über den Tisch. „Geben Sie’s in die große Ablage, denn zu mehr taugt das Machwerk nicht.“

      Ein paar grinsten, Olga blickte eisern. Die große Ablage war der Papierkorb.

      Sie griff den Protokollblock und kam hinter ihm her. In seinem Schreibzimmer feilte Gerda, die Stenotypistin, die Fingernägel zurecht. Eine Beschäftigung, die ihn rasend machen konnte.

      Doch an Gerdas phlegmatischer Natur perlten heftige Ermahnungen wie Wasser an Ölzeug ab.

      Gelassen verstaute die Schreibdame die Feile in der Schublade und übte einen unschuldigen Augenaufschlag.

      Olga Finkenschläger hielt den Atem an. Gleich musste das Donnerwetter losgehen!

      Stattdessen fragte Becker: „Hat meine Frau angerufen?“

      Die Leitungen waren während der Konferenz auf Gerdas Apparat geschaltet.

      „Hat sie nicht“, erklärte das Mädchen.

      Becker schüttelte den Kopf und marschierte weiter ins Vorzimmer. Olga Finkenschläger folgte ihm, drückte die Tür hinter sich zu und deutete mit den Unterlagen zaghaft auf den Papierkorb.