dämmerten auf der Autobahn vor sich hin. Flattern konnten die meisten von ihnen längst nicht mehr.
Ich würde es nicht rechtzeitig zur Vesper und zum Aperitif schaffen und rief im Seminar an. Jeremias versprach, auf mich zu warten und mir die Tür zu öffnen.
Es war schon nach Mitternacht, als ich endlich ankam. Jeremias schloss die Tür auf und umarmte mich herzlich. Er nahm mir, jeglichen Widerspruch ignorierend, einen Großteil des Gepäcks ab und öffnete mit breitem Grinsen die Tür zu meinem Zimmer. Er hatte einen kleinen, dreigängigen Imbiss auf dem Schreibtisch aufgebaut. Zum Glück gab es kein Huhn.
Wir entkorkten eine Flasche Grauburgunder und redeten über unsere Erlebnisse während der Ferien.
Mit zwölf neuen Anwärtern sei das Seminar nun ziemlich voll, aber Kotulla hätte in seiner Ansprache wieder düstere Zukunftsperspektiven an die barocken Wände geworfen.
‚Bist du wie Petrus?‘, hätte er wieder und wieder donnernd und mit ausgestrecktem Zeigefinger gefragt, auf den Verrat des Apostels anspielend, auf nahezu jeden Menschen im Raum deutend.
»Er gehört halt zu einer anderen Generation«, meinte ich.
»Sie sind damals wahrhaftig durch eine harte Schule gegangen«, stimmte Jeremias zu, »aber er sollte doch auch etwas Freude darüber zeigen, dass zwölf Neue hier anfangen!«
»Es gehört beides dazu, wie immer. Nichts ist ausschließlich«, sagte ich.
»Vielleicht … wahrscheinlich«, antwortete Jeremias.
Jeremias konnte sich nicht verbiegen. Das wusste jeder – und jeder akzeptierte es, sogar Kotulla. Die Wahrhaftigkeit seines Schülers schien ihn zu beeindrucken.
Und dann geschah es, am nächsten Morgen sah ich dich zum ersten Mal. In der Kirche musst du hinter mir gesessen haben, denn du warst mir nicht aufgefallen. Immer wenn ich darüber nachdenke, bin ich überrascht, wie ein einziger Moment imstande ist, ein ganzes Leben zu verändern – und wie wenig man sich dessen in eben diesem Moment bewusst sein kann.
Es geschah auf dem Weg ins Refektorium. Alexander hatte sich an meine Seite gedrängt und schwatzte laut von seinen Ferienerlebnissen in Rom. Vor uns gingen drei oder vier der neuen Studenten, du in ihrer Mitte. Auf einmal drehtest du dich um, blicktest zuerst auf Alexander und dann wanderte dein Blick zu mir. Nur ganz kurz schautest du, ein vielleicht irritiertes Aufblitzen oder Innehalten, dann konzentriertest du dich wieder auf das Gespräch mit deinen Kameraden. Ich hatte zum ersten Mal in deine klaren, braunen Augen gesehen – und fühlte mich mit einem Male so lebendig wie im Meer am Strand von Hiddensee.
Das Frühstück begann und ich sah dich am Tisch der Neuzugänge sitzen. Ich beteiligte mich nicht an den Gesprächen über die Ferien, das kommende Semester, die Erkundung der neuen Fächer und die Vertiefung der alten.
Ich holte meine Bücher und ging zur Philosophievorlesung in die Fakultät hinüber.
Beim Mittagessen saß ich so, dass ich dich nicht sehen konnte. Das würde mir nicht noch einmal passieren!
Am Nachmittag versuchte ich mich aufs Lernen zu konzentrieren.
Am Abend geschah nichts Außergewöhnliches, nicht beim Essen, nicht während der Heiligen Messe, nicht bei einem Spaziergang durch die ins sanfte Abendlicht getauchte Stadt. Im Bett las ich noch in einem Erzählband, war es Thomas Mann, war es Thomas Bernhard?, dann knipste ich das Licht aus und schlief ein und konnte mich am nächsten Morgen nicht an meine Träume erinnern.
Es war, als sei gar nichts geschehen.
Am nächsten Tag aber liefst du im Gang an mir vorüber, offensichtlich wolltest du zum Joggen. Du hattest einen MP3-Player dabei, entferntest den Stöpsel aus deinem linken Ohr, um mich zu grüßen und ich erkannte die Musik, es war Fleetwood Macs »Go your own Way« und ich beeindruckte dich, als ich sagte, es handele sich um die Live-Version von 1979 (mein Bruder hatte sie oft gehört, bis zum Erbrechen, ich erkannte das ekstatische Gitarrensolo).
Da – erst da! - bemerkte ich, wie schön dein Gesicht geschnitten war: Die schwarzen Brauen, die sich leicht ironisch über deine leuchtend braunen Augen wölbten. Und der Mund, dessen Oberlippe leicht vorsprang und sich entspannt und voll geschwungen auf die untere schmiegte; deine Wangenknochen, männlich, aber edel moduliert, und deine vollen, schwarzen Haare, die feine, intelligente Stirn.
Ich schaute.
Zu intensiv - es konnte kein richtiges Gespräch fließen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nicht einmal meinen Namen konnte ich nennen. Wahrscheinlich habe ich doch etwas gesagt, aber schon während ich es sagte, hatte ich es vergessen.
Du hoffentlich auch.
»Ich bin übrigens Christian«, sagtest du.
Den ganzen Tag über ging mir das Lied nicht mehr aus dem Kopf – und vorher hatte ich es nicht einmal besonders gemocht.
IX.
Am Abend dann, es war nach 21 Uhr, begannen die hebräischen Buchstaben vor meinen Augen zu tanzen. Ich klopfte bei Jeremias und fragte ihn, ob wir noch eine Runde durch die Altstadt drehen wollten? Natürlich entging Alexanders inquisitorischem Spürsinn unser Gespräch auf dem Gang nicht und kaum hatte ich mein Zimmer verlassen, da fragte er scheinheilig, bereits gestiefelt und gespornt aus seiner Türe lugend, ob wir nicht zufälligerweise auch das Verlangen nach ein wenig frischer Luft verspürten?!
Leichter Nieselregen bestäubte die Stadt und dennoch waren die Sommerdüfte noch nicht verflogen. Mit hochgezogenen Schultern liefen wir durch die mittelalterlichen Gassen und kehrten, nicht weit vom Domhügel entfernt, ins Café Rio ein. Bambus an den Wänden, getrocknetes Schilf an der Decke, große geschnitzte Indianerstatuen zwischen den Palmen im ganzen Café.
Wir setzten uns an einen der alten Holztische. Jeremias bestellte ein Weizenbier, Alexander einen Rotwein »mit fruchtigem Abgang« und ich Bitter Lemon. Wir sprachen über die neuesten Ereignisse in der Kirche und über die Bistumspolitik, klammerten aber persönliche und theologische Themen aus – wie immer, wenn Alexander mit von der Partie war.
Die Tür des Cafés flog auf und du kamst herein, begleitet von einem Studenten aus deinem Jahrgang. Ich erkannte dich schon aus dem Augenwinkel heraus an deiner gelb-roten Windjacke. Du grüßtest uns und ihr setztet euch an den einzig frei gebliebenen Tisch, nur durch eine kleine, niedrige Wand aus Bambus von dem unsrigen getrennt.
Unter dem Tisch versuchte ich, Alexanders Knie auszuweichen, es schien bereits überall dort zu sein, wohin ich meine Beine platzieren wollte. Auf einmal hörte ich deine Stimme dicht an meinem Ohr, so warm und humorvoll und dabei gleichzeitig leicht ironisch und schön klingend, ich wollte darin ertrinken. Dabei fragtest du lediglich nach der Getränkekarte auf unserem Tisch.
Übereifrig wollte ich sie dir reichen und stieß dabei mein Glas um, aufzischend spritzte Bitter Lemon über den Tisch und auf Alexanders Oberschenkel. Verlegen reichte ich dir die nun triefende Karte und du lachtest, etwas unsicher, glaube ich.
Der Kellner wischte den Tisch ab, brachte dir ein Becks und mir eine neue Bitter Lemon.
»Christian, das brauchst du nicht«, hörte ich mich sagen, zum ersten Mal sprach ich deinen Namen aus, und er war mir so vertraut, als hätte ich meinen eigenen gesagt.
Dieses Gefühl kannte ich nicht.
Doch du winktest ab, prostetest mir mit deinem Bier zu. Ich spürte es in meinen höchstwahrscheinlich hochrot angelaufenen Ohren und Wangen kribbeln, Jeremias prostete gelassen mit seinem Hefeweizen in die Runde und Alexander müffelte nach Bitter Lemon.
Während der nächsten Tage und Wochen begann ich, bei den Mahlzeiten nach dir Ausschau zu halten und zu hoffen, in der Kirche neben dir sitzen zu können. Ich bemerkte, dass du es bemerktest.
Ich sehe dich noch vor mir, wie du mir zum ersten Mal zulächeltest, ich weiß noch genau, wo es geschah, denn es ist ein heiliger Ort für mich geworden und niemand weiß davon, nicht einmal du!