und, um gut sehen zu können, dein Gesicht über meine rechte Schulter schobst.
Wir fuhren durch die ruhigen Straßen, das Seminar war noch fern und über der nebligen Stadt wölbte sich irgendwo der Sternenhimmel.
Mein Kopf lag an deiner Schulter, es war einfach passiert, ich hatte es nicht bemerkt.
Es war alles so still.
Wir erreichten den Domhügel und bogen in den holprigen Dominikanergang, mussten absteigen.
Was war da geschehen - etwas Neues, Ungewohntes, etwas sehr, sehr Schönes?
Halbschlafversunken vernahm ich am nächsten Morgen ein scharrendes Geräusch und meinte, der große Hibiskus habe wieder einen seiner welk gewordenen Kelche auf die Erde fallen lassen. Schleichende Schritte hörte ich, wie aus einer anderen Welt. Ich sank zurück in Traumlandschaften, aus denen mich wenig später das Klingeln meines Weckers riss.
Sofort stand ich auf, taumelte in die Dusche und hielt zuerst nur meinen Kopf, dann meinen ganzen müden Körper unter den kalten Strahl, verrichtete meine Morgentoilette in immer noch halbwachem Zustand, mit automatisierten Bewegungen.
Erst als ich mich angezogen hatte und zum Morgengebet gehen wollte, bemerkte ich einen DinA-4–Umschlag aus braunem Packpapier vor meiner Tür. Überrascht hob ich ihn auf, wendete ihn in meinen Händen, fand weder Absender noch Adressat.
Ich zog einige Bögen Papier heraus: »Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche«.
Überrascht las ich weiter, versuchte, Schlaf und Müdigkeit aus Augen und Geist zu vertreiben. Was mochte das bedeuten? Wurden solche Dokumente neuerdings auf diese Weise im Seminar verteilt? Aber warum - dies war ein altes Schreiben (von 1986!) über die »Seelsorge für homosexuelle Personen«.
Ich begann zu lesen, zunächst überrascht, dann einigermaßen bestürzt über den harschen und rüden Ton, der mit jedem Satz aus den Bögen hervorschoss.
In der Zeit, als Aids zuerst unter den Schwulen zu wüten begann, tausende qualvoll starben und einem frühen Tode ins Angesicht schauen mussten, hatte ihnen die Kongregation solche Sätze um die Ohren gehauen. Ein denkbar schlechter, unsensibler Zeitpunkt, um – vielleicht auch zum Teil notwendige? – Dinge klarzustellen.
Ich legte die Bögen auf meinen Schreibtisch, machte mich auf den Weg zur Kirche und traf Jeremias.
»Hast du auch dieses 1986-er Schreiben der Glaubenskongregation bekommen?«, fragte ich ihn.
»Du hast Post von der Inquisition?!«, scherzte er.
»Ja, so kann man es wohl nennen.«
Ich erzählte ihm von dem Brief und Jeremias meinte, da habe sich jemand bestimmt einen Scherz erlaubt – »Oder ein Versehen«, sagte ich mir und vergaß das Schreiben. Es verschwand in den tiefen Schubladen meines Schreibtischs.
Nur eine leise Irritation blieb. War das die Kirche, die ich kannte – und liebte?
Am Abend gingen wir Studenten des Seminars zu einer Adventsfeier ins Jugendzentrum, du und ich, auch Jeremias, Alexander und noch einige andere. Kotulla hatte uns die Erlaubnis gegeben; offenbar war er der Auffassung, in einem katholischen Jugendzentrum könnten uns keine häretischen Läuse über die klerikalen Lebern laufen.
Zuerst sangen wir, dann hörten wir Musik und die Jugendlichen und jungen Erwachsenen – und auch wir!- begannen zu tanzen. Irgendwann lief »The Power of Love« von Frankie goes to Hollywood. Du saßest neben mir und obwohl du so nah warst, verspürte ich ein unglaublich großes Sehnen nach dir. Ich lehnte meinen Kopf an die Wand und stellte mir vor, es wäre deine Schulter, und schloss meine Augen.
Schnaufend ließ sich Alexander auf den Stuhl zu meiner Linken fallen, er hatte bereits einige Biere zuviel in sich hineingeschüttet.
»Was singen die denn da?«, meckerte er so dicht an meinem Ohr, dass Speicheltröpfchen an meine Wange regneten und mich erschaudern ließen. »The power of love – a furz from above?!?«
Da fingst du neben mir zu lachen an, du konntest so lachen, wie ich noch nie jemanden vor dir je hab lachen hören. Wer konnte so lachen? Du lachtest so laut und ich stimmte ein, aber nur leise schmunzelnd.
Erst weit nach Mitternacht brachen wir im sanften Schein der alten Laternen auf, es hatte zu schneien begonnen, und der Schnee verschluckte unsere Schritte. Diese Altstadtidylle wurde durch Alexander empfindlich gestört: Er war weiter aus dem Rahmen gefallen und dazu übergegangen, lateinische Titel verschiedener päpstlicher Enzykliken vor sich hinzulallen. Jeremias und ich hatten ihn eingehakt. So leise wie nur irgend möglich schlüpften wir ins Seminar und schoben, zogen und stemmten den immer schwerer – weil müder - werdenden Alexander die Treppe rauf. Er war mit seinem Enzykliken-Latein am Ende und inzwischen dazu übergegangen, den – Gott sei Dank tief schlafenden – Regens unflätig als Kot-Ulla zu beschimpfen. Jeremias und ich brachten ihn auf sein Zimmer, setzten ihn auf seine Bettkante und zogen ihm die Schuhe aus.
»Ihr seid echte Brüder, Jungs!«, lallte er weinerlich und ließ sich mit einem tiefen Schnauben zurückfallen. Ich breitete die Decke über seinem gewaltigen Körper aus. Schon im nächsten Moment wurden dieser, das Bett, ja, das ganze Zimmer von einem ohrenbetäubenden Schnarchen erschüttert.
»Ein Wunder, dass er die Decke nicht einatmet«, sagte Jeremias und stellte fürsorglich einen Eimer neben Alexanders Bett.
Wir wünschten uns eine gute Nacht und gingen in unsere Zimmer.
Ich trank Mineralwasser, als es leise an meiner Balkontür klopfte. Erschreckt fuhr ich zusammen und schob den Vorhang zur Seite, sah, wie sich mein Gesicht in der Scheibe spiegelte und mit dem deinigen, der du draußen auf dem Balkon standest, verschmolz. Ich öffnete die Tür und du schlüpftest ins Zimmer.
»Ich wollte dich was fragen«, sagtest du.
Mein Herz fing an zu pochen.
»Meine Eltern verreisen über Weihnachten und Silvester. Hast du nicht Lust, mich in Blankenrade besuchen zu kommen? Wir haben einen See, auf dem wir Schlittschuh fahren können!«
Als ob du mich überreden müsstest!
»Ich müsste die Feiertage bei mir zuhause verbringen«, antwortete ich, »doch ab dem 27., da kann ich, sehr gerne!«
Ich strahlte von einem Ohr zum anderen.
Du auch.
Und so schnell wie du gekommen warst, verschwandest du auch wieder im schneehellen Dezemberdunkel. Ich stand noch einen Moment lang an der offenen Balkontür, die Mineralwasserflasche in der Hand und meinte, dem Fall der weißen Flocken lauschen zu können.
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