gehen wir in noch frühere Zeitalter zurück, drei Jahrtausende vor Christus: Haran, ein reicher Bauer aus Mesopotamien, dem Zweistromland, möchte einige seiner Rinder und Schafe dem Händler Nahor in Ur, der Stadt, aus der Abraham stammte, verkaufen und dafür Saatgut, Textilien und Baumaterial erwerben. Um auf Nummer sicher zu gehen, dass der Knecht, den Haran mit den Tieren zu Nahor schickt, diese vollzählig beim Händler abliefert, nimmt der Bauer einen irdenen Topf und wirft für jedes Rind, das er dem Knecht anvertraut, eine Kugel in den Topf. Und für jedes Schaf, das er verkaufen will, wirft er eine Scheibe in den Topf. Zwar kann Haran noch nicht mit Zahlwörtern zählen, aber die Kugeln und Scheiben leisten das Gleiche. Sodann verschließt Haran den Topf mit einem Deckel und verschmiert den Rand von Topf und Deckel mit Lehm. Das verschlossene Gefäß wird im Feuer gebrannt, sodass der Deckel fest am Topf geheftet bleibt. Mit diesem Gefäß und den Tieren schickt Haran den Knecht auf die mehrere Tage dauernde Reise zu dem Händler in Ur.
Dort endlich angekommen, nimmt Nahor dem Knecht den Topf aus der Hand. Der Händler weiß aus Erfahrung mit den Bauern, mit denen er Geschäfte macht, was es mit diesem Behältnis auf sich hat: Nahor lässt den Topf auf den Steinboden fallen, dieser zerbricht in Dutzende Scherben und die Kugeln und Scheiben kommen wieder zum Vorschein. Jetzt wird gezählt. Kuh – Kugel, Kuh – Kugel: So viele Kugeln, so viele Kühe müssen abgeliefert werden. Schaf – Scheibe, Schaf – Scheibe: Bei den Schafen ist es das Gleiche. Und wehe, wenn eines der Tiere fehlen sollte: Der Knecht müsste es mit seinem Leben büßen. Natürlich: Wenn die Reise zum Händler mehrere Tage in Anspruch nahm und eines der Tiere trächtig war, konnten sogar noch mehr Tiere abgeliefert werden, als es Kugeln und Scheiben im Topf gab. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen der Biologie und der Mathematik: In der Biologie ändert sich alles mit der Zeit. Die Zahlen hingegen bleiben über alle Zeiten hinweg immer die gleichen. Sie sind für immer konstant. Nicht die Biologie, die Mathematik ist die nachhaltigste aller Wissenschaften.
Einzig unser Zugang zu den mathematischen Objekten wandelt sich. Er wird von Generation zu Generation einfallsreicher. So kennt Nahor bereits andere Bauern, die es geschickter machen als der alte Haran. Die jungen Bauern nehmen eine Lehmtafel und ritzen in ihr Zeichen ein: Runde Kreise stehen für die Kugeln, die Haran in den Topf warf, senkrechte Striche stehen für die Scheiben. Wenn danach die Lehm- zu einer Tontafel gebrannt wird, sind die so eingetragenen Zahlen genauso unverwüstlich wie die Kugeln und Scheiben in Harans verschlossenem Topf. Und zusätzlich bieten sie den Vorteil, dass der Knecht auf der langen Reise zum Händler stets überprüfen kann, ob die Tiere in seiner Herde vollzählig vorhanden sind. Noch heute finden wir solche Tontafeln in dem von Euphrat und Tigris durchzogenen Wüstenland mit eingravierten Zeichen. Zwar nicht Kreise und Striche, wie es in der vereinfachten Geschichte beschrieben ist, sondern mit Keilschriftzeichen. Doch diese leisten das Gleiche: Es war das Bestreben der Menschen, über ihren Besitz gleichsam Buch zu führen, das sie zur Erfindung von Zahlen, aber auch zur Erfindung der Schrift veranlasste.
Vom Ursprung des Multiplizierens
„Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen: ‚Dies ist mein‘, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Begründer der zivilen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viele Leiden und Schrecken hätte nicht derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch davor, auf diesen Betrüger zu hören! Ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und dass die Erde niemandem gehört!‘“
1754 erschien die Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen von Jean-Jacques Rousseau. Obiges Zitat bildet den Ausgangspunkt seiner Idee vom Naturzustand des Menschen. In diesem paradiesischen Zustand, so Rousseau, war der Mensch gleichgültig gegenüber Eigentum. Wäre er es nur geblieben, klagt der einfältige Rousseau. Dann gäbe es keinen Kampf um mehr Besitz. Es gäbe nämlich überhaupt keinen Besitz – und auch keine Zahlen. Denn niemand würde sich genötigt fühlen, irgendetwas zu zählen.
Tatsächlich gibt es in schwer zugänglichen Winkeln der Welt immer noch Naturvölker, die von Eigentum und Besitz und daher auch von Zahlen nichts wissen. Sie kennen neben Einzelnem nur noch Paare und höchstens Dreiergruppen. Bei mehr als drei Bäumen sehen Bakairis oder Bororos, Ureinwohner Brasiliens, einfach nur „viele“ Bäume und greifen sich, um dies zum Ausdruck zu bringen, in die Haare. Ganz fremd ist auch uns dies nicht: Als Spaziergänger sehen wir die Bäume im Wald, kommen aber nie auf die Idee, sie zu zählen. Sie gehören uns auch nicht. Es reicht uns, dass es viele sind. Allein der Landwirt, der einen Forst sein Eigen nennt, will über die Zahl seiner Bäume Bescheid wissen.
Ein Stück Land, am besten ein Rechteck, einzuzäunen und als seinen Besitz zu erklären, damit beginnt, behauptet Rousseau, die Geschichte als ein stetes Hin und Her von Reichtum und Armut, von Gewinnern und Verlierern. Dabei ist der Zaun um das Rechteck gar nicht das Wesentliche. Das stellen vier Bauern fest, die Zäune um ihre kleinen rechteckigen Felder anlegen: Der erste Bauer hat ein Feld, das sieben Klafter lang, aber nur einen Klafter breit ist. Der zweite ein Feld, das sechs Klafter lang und zwei Klafter breit ist. Der dritte ein Feld, das fünf Klafter lang und drei Klafter breit ist. Und der vierte hat ein quadratisches Feld, das vier Klafter lang und vier Klafter breit ist. Alle vier Felder haben den gleichen Umfang. Alle vier Bauern brauchen Bretter für jeweils einen 16 Klafter umfassenden Zaun. In diesem Sinn sind alle vier Felder gleich groß. [Siehe Abb. 2]
Abb. 2: Links von oben nach unten die Skizzen dreier Felder: das erste sieben Klafter lang und einen Klafter breit, das zweite sechs Klafter lang und zwei Klafter breit, das dritte fünf Klafter lang und drei Klafter breit. Rechts unten die Skizze des quadratischen Feldes mit vier Klafter Seitenlänge. Alle vier Felder haben den gleichen Umfang, aber verschiedene Flächeninhalte.
Aber wenn es zur Ernte kommt, ärgert sich der erste Bauer, weil seine Nachbarbauern weitaus mehr ernten als er, der dritte und der vierte gar mehr als doppelt so viel. Denn auf den Umfang der Rechtecke kommt es bei der Ernte nicht an, sondern auf den Flächeninhalt, den die Rechtecke einnehmen. Da ist der erste Bauer arm dran, weil sein Feld nur sieben mal eins, also nur sieben Quadratklafter Fläche besitzt. (Ein Quadratklafter ist, wie das Wort sagt, der Flächeninhalt eines Quadrats mit einem Klafter Länge und einem Klafter Breite.) Der zweite Bauer hat wenigstens ein Feld mit sechs mal zwei, also mit zwölf Quadratklaftern Flächeninhalt. Und die Flächeninhalte der Felder des dritten und des vierten Bauern betragen fünf mal drei, also 15, und vier mal vier, also gar 16 Quadratklafter. Darum war seit jeher das Multiplizieren so wichtig: Die Flächeninhalte von Rechtecken kann man damit ausrechnen, wenn man deren Längen und Breiten kennt.
Natürlich wussten die Landwirte schon seit grauer Vorzeit, dass der Umfang ihrer Felder kaum eine Rolle spielt, sondern nur deren Flächeninhalt. Zwar kommt in manchen Volksschulbüchern noch immer die Aufgabe vor: „Ein Bauer umzäunt sein Feld. Es ist 30 Meter lang und zehn Meter breit. Wie lang ist der Zaun?“ Aber eine Fahrt übers Land belehrt, dass dieses Beispiel kaum Realitätsbezug hat. Felder sind nicht umzäunt. Wozu auch? Wenn ein Bauer argwöhnt, dass ihm der Nachbar ein Stück von einem seiner Felder wegnimmt, also etwas von seiner Fläche – und natürlich nicht von seinem Umfang – stiehlt, ruft er sofort den „Geometer“. Damit ist ein Vermessungsingenieur gemeint, der mit seinen mathematischen Kenntnissen feststellt, ob der Argwohn des Bauern berechtigt ist oder nicht. Landwirte verlassen sich auf die Mathematik. Sie tun gut daran.
Von der Kunst des Multiplizierens
Im Mittelalter mussten die Agronomen noch viel mehr auf die Kunst der Mathematiker vertrauen: Ein Bauer aus Trattenbach zeigt seiner Tochter in der Scheune, wie viele Säcke Weizen er dort gelagert hat. Viele sind es, behauptet er stolz. Die meisten gehören seinem Lehensherrn, dem Herren von Kranichberg, aber über ein paar von ihnen darf er selbst verfügen. Er habe sie gezählt.