Rudolf Taschner

Vom 1x1 zum Glück


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die Säcke auf die Waage gestellt, sagt ihr der Vater. Jeder wiegt ungefähr das Gleiche, immer XXIII Pfund. Wie viel Pfund Weizen ist das insgesamt, fragt jetzt das Kind. Da kommt der Bauer ins Schwitzen. XVII müsste er jetzt mit XXIII multiplizieren. Das kann er nicht.

      Nur wenn er sehr gewitzt ist, kommt er auf die folgende Idee: Schöner wär es, wenn er seinen Weizen statt in XVII Säcke in XX Säcke gespeichert hätte. Dann hätte er mehr Säcke Weizen. Aber jeder der Säcke wäre dann leider ein klein wenig leichter, als sie jetzt sind. Vielleicht nur XX Pfund statt XXIII Pfund schwer. Modern gesprochen: Der Bauer hat die Zahl 17 der Säcke auf 20 aufgerundet und das Gewicht 23 Pfund eines Sackes auf 20 Pfund abgerundet. Das ist sehr sinnvoll, denn 20 mit 20, in der römischen Schreibweise: XX mit XX, kann er multiplizieren. Er weiß, das zehn, also X, mit zehn, also mit X, multipliziert 100 ergibt. Im Lateinischen heißt 100 centum. Daher kürzt der Buchstabe C in der römischen Zahlenschreibweise hundert ab. Und weil zwei mal zwei vier ergibt, muss XX mit XX multipliziert CCCC als Ergebnis liefern. Der Bauer sollte also rund 400 Pfund Weizen sein Eigen nennen.

      Doch wir dürfen davon ausgehen, dass nur wirklich sehr wenige Landwirte so geschickt und einfallsreich denken konnten. Und selbst diese beschäftigt genauso wie den Bauern unserer Geschichte die Frage, wie viel Pfund Weizen er denn wirklich genau hat. Jedenfalls geht der Trattenbacher Bauer am Sonntag zum Pfarrer und bittet diesen um Rat: Er möchte wissen, was XVII mit XXIII multipliziert ergibt. Und der Pfarrer, in weltlichen Dingen fast so gut bewandert wie in geistlichen, kann zwar die Frage nicht beantworten, aber weiß, was zu tun ist: Der Bauer soll nach Wiener Neustadt fahren. In dieser großen Stadt, nur eine halbe Tagesreise von Trattenbach entfernt, gäbe es am Hauptplatz eine Schreibstube, in der ein Rechenmeister sitzt, der sicher die Antwort kennt.

      Tatsächlich war im Mittelalter der Beruf des Rechenmeisters hoch angesehen. Jede größere Stadt beschäftigte mindestens einen dieser Gilde. Die besten unter ihnen kamen aus Italien und wurden Cosisten genannt. Denn ihre Kunden stellten andauernd Rechenaufgaben, die mit der Frage „Che cosa?“ im Sinne von „Was kommt heraus?“ endeten. Darum sprach man damals auch vom „Cos“, vom Unbekannten, das es zu berechnen gilt.

      Und so sehen wir den Bauern aus Trattenbach nach Wiener Neustadt fahren. Er muss ohnehin in die Stadt, um Verkäufe und Einkäufe zu erledigen, aber den Rechenmeister möchte er unbedingt aufsuchen. „Was kommt heraus, wenn man XVII mit XXIII multipliziert“, fragt er ihn. Und erhält als Antwort: „Zwei Gulden.“ „Zwei Gulden, was bedeutet das?“, fragt der Bauer zurück. „Zwei Gulden sind zu bezahlen, dass ich bei einer Aufgabe wie dieser die Antwort gebe“, erklärt der Rechenmeister. Ein wenig betroffen von der großen Summe kramt der Bauer die zwei Münzen aus seinem Sack und legt sie auf den Tisch des Rechenmeisters. Jetzt müsse der Bauer weggehen, verlangt der Cosist streng. Denn zuschauen bei seiner Rechenarbeit dürfe man nicht. Sie sei nicht nur schwierig, sie sei auch geheim. Also geht der Bauer unverrichteter Dinge in das gegenüberliegende Gasthaus und wartet dort eine geschlagene Stunde, bis er vom Rechenmeister das Ergebnis abholen darf. CCCLXXXXI, so lautet es: Die drei C stehen für 300, erklärt der Rechenmeister dem verdutzten Bauern. Das L, eigentlich die eckig geschriebene untere Hälfte eines C, steht für ein halbes C, also für 50. Die nachfolgenden vier X symbolisieren 40, sodass zu den 300 noch 90 und zum Schluss noch ein I, also noch eins hinzukommen.

      So übel war die Abschätzung CCCC, also 400 Pfund für das Gewicht des Weizens, der in der Scheune des Bauern lagert, gar nicht. Nur neun Pfund weniger hat die genaue Rechnung des Cosisten ergeben. Es wäre vom Bauern klüger gewesen, sich mit der Schätzung abzufinden. Denn wirklich glücklich war er mit dem nach Trattenbach zurückgebrachten Resultat nicht. Es war so eigenartig kompliziert – der Bauer hat kein Gefühl dafür, was CCCLXXXXI wirklich bedeutet. Zwar hatte er dem Rechenmeister viel Geld dafür bezahlt, aber wie es zustande kam, verstand er nicht. Es blieb ihm nur übrig, an die Richtigkeit des Ergebnisses zu glauben. Zwei Gulden ist das eigentlich nicht wert.

       Mathematik als Schritt in die Freiheit

      Im Jahr 1522 gab Adam Ries, ein Cosist aus Staffelstein bei Bamberg, ein Buch mit dem Titel Rechnung auf der Linien und Federn heraus, das der Rechenmeisterzunft den Untergang bescherte: Das Buch, geschrieben in der Sprache des Volkes, erklärte in deutschen Landen zum ersten Mal, dass man Zahlen auch anders schreiben könne als mit den römischen Zahlzeichen. In Spanien und in Italien kannte man sie schon: die von Arabern aus Indien eingeführten Ziffern, die damals ungewohnten Symbole 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 für die ersten neun Zahlen. Besonders geheimnisvoll aber war das Symbol 0 für null, das buchstäblich nichts bedeutet. Als der italienische Gelehrte Leonardo von Pisa, als Filius, also als Sohn des Bonacci einfach Fibonacci genannt, seiner Heiligkeit dem Papst dieses Symbol zu erklären versuchte, stieß er auf pures Unverständnis. Wie kann man, so fragte der Papst ganz vernünftig, „nichts“ symbolisieren? Aber all der wohlbegründeten Skepsis zum Trotz: Man braucht das Symbol 0, um weitere Zahlen mit den Ziffern schreiben zu können. Denn in Zahlen wie zum Beispiel 1003 besitzen die Ziffern 1 und 3 sogenannte Stellenwerte. Die Ziffer 3 ist in ihr die Einer-, die Ziffer 1 in ihr die Tausenderziffer. Und weil bei der Zehner- und bei der Hunderterstelle nichts hinzukommt, werden in 1003 diese beiden Stellen jeweils mit der eigenartigen Ziffer 0 belegt. Das ist wichtig, um verstehen zu können, dass – glaubt man Leporello, wenn er die Registerarie singt – Don Giovanni in Spanien bereits 1003 Frauen verführte. Gäbe es die Null nicht, hätte er bloß 13 Frauen verführt. Das wäre für einen Schwerenöter einfach nur blamabel.

      Die Ziffern und ihre Stellenwerte in Zahlen erklärt Adam Ries im ersten Kapitel seines Buches, das er mit „Nummerieren“ überschreibt. Das nächste Kapitel heißt „Addieren“. Wie es heute noch Volksschulkinder lernen, lässt Adam Ries die zu addierenden Zahlen untereinander schreiben, fein säuberlich nach Stellenwerten geordnet, und erklärt, wie man mit der Einerstelle beginnend die Ziffern der Summe mit ansteigenden Stellenwerten ermittelt. Darauf folgt das Kapitel „Subtrahieren“. Auch hier schreibt man die kleinere Zahl, die man von der größeren abzieht, Stellenwert für Stellenwert darunter an. Und Adam Ries erklärt die Rechnung so, wie sie noch heute den Kindern in den Schulen beigebracht wird.

      Danach kommt ein für alle, die das Buch lasen, besonders spannendes Kapitel: „Multiplizieren“. Adam Ries erklärt auch diese Rechenoperation für jede und jeden verständlich. Was vorher nur die Rechenmeister mit von ihnen geheim gehaltenen Regeln kunstreich vollführten, können nun alle. So sie mit dem Einmaleins vertraut sind. Und Üben muss man natürlich, will man das Rechnen gewandt und möglichst fehlerfrei beherrschen. Aber die Leute rechneten gerne, und Adam Ries gab ihnen in seinem Buch eine hinreichende Fülle von Übungsaufgaben. Denn jetzt brauchten die Leute nicht mehr einen Cosisten zu beschäftigen, ihm ihr sauer verdientes Geld zu zahlen und von ihm Ergebnisse abzuholen, an die sie glauben mussten und die sie nicht überprüfen konnten.

      Doch mit dem Multiplizieren hört das Buch nicht auf. Es folgt ein weiteres Kapitel: „Dividieren“. Dies ist die letzte und zugleich schwerste der Grundrechnungsarten. Wenn man Zahlen in römischen Zahlzeichen schrieb, war das Dividieren eine Kunst, die selbst nur wenigen Rechenmeistern wirklich gut geläufig war. Im Mittelalter wurde es an den Universitäten gelehrt, so anspruchsvoll war es. Aber mit den arabischen Zahlzeichen und der Kenntnis des Einmaleins kann es jede und jeder lernen und nach hinreichend langem Üben gut nachvollziehen. Das Dividieren selbst ist wichtig, um das letzte und krönende Kapitel verstehen zu können, das im Buch des Adam Ries den Abschluss bildet: „Regula di tre“ überschrieb er es, übersetzt der „Dreisatz“, was im bayerischen und österreichischen Raum die „Schlussrechnung“ heißt. Darin verbergen sich die Rechnungen im Handel, die deshalb ganz besonders hoch im Kurs stehen, weil sie mit Geld zu tun haben.

      „910 Kreuzer muss man zahlen, wenn man 35 Ellen Stoff kaufen möchte.“ Das ist des Dreisatzes erster Satz. In ihm werden die Tatsachen kundgetan. „Jemand will nicht 35, sondern 42 Ellen Stoff kaufen.“ Das ist des Dreisatzes zweiter Satz. In ihm wird ein Ziel vorgegeben. „Wie viele Kreuzer muss er dafür zahlen?“ Diese Frage ist des Dreisatzes dritter Satz. Adam Ries erklärt gewissenhaft, dass man aus den mitgeteilten Tatsachen zuerst zu ermitteln hat, wie viel eine Elle Stoff kostet. Zu diesem Zweck ist 910 durch 35 zu dividieren, und die Rechnung führt er penibel vor. (Dass