Mascha Dabić

Dolmetschen in der Psychotherapie


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das Original – also den Sprechakt – in sämtlichen Facetten (Inhalt, Bedeutung, Tonlage, Humor, Realien, Anspielungen etc.) zu verstehen und in der Zielsprache so vollständig und so korrekt wie möglich wiederzugeben. Geschwindigkeit ist im Unterschied zum schriftlichen Übersetzen von entscheidender Bedeutung, denn damit eine DolmetscherIn einen kompetenten Eindruck macht, muss sie in der Lage sein, nicht nur korrekt, sondern auch schnell zu arbeiten. Verlangsamungen, die sich durch Sprechpausen und Häsitationen manifestieren, führen dazu, dass insgesamt ein Eindruck entsteht, die DolmetscherIn sei inkompetent und/oder mit der gegebenen Situation überfordert. Bleiben wir bei der Rollenmetapher, so gilt es festzuhalten, dass die DolmetscherIn eben nicht die Möglichkeit hat, ihren Text vorzubereiten und den Vortrag zu üben. Stattdessen geht es in der Dolmetschsituation darum, sämtliche sprachliche und sonstige Wissensbestände „innerhalb eines Sekundenbruchteils“ abzurufen, um die Aufgabe des Verstehens und Verständlichmachens bestmöglich erfüllen zu können. Gefragt ist also eine solide Vorbereitung im Hintergrund im Sinne einer langfristig akkumulierten Kompetenz, sowie eine optimale (improvisierte) Performance der Rolle im Hier und Jetzt.

      Goffman definiert mehrere Sonderrollen: „die des Denunzianten, des Claqueurs, des Kontrolleurs, des professionellen Einkäufers und des Vermittlers“ (ebda. S. 90). Goffmans Überlegungen zu der letztgenannten Rolle, der des Vermittlers, thematisieren ethische Dilemmata von DolmetscherInnen (in der Psychotherapie, aber auch in anderen Kontexten):

      Der Vermittler erfährt die Geheimnisse beider Seiten und erweckt bei jeder Seite den berechtigten Eindruck, daß er ihre Geheimnisse bewahren werde; er ist aber bestrebt, bei jeder Seite den falschen Eindruck zu erwecken, als sei seine Loyalität ihr gegenüber größer als seine Loyalität gegenüber der anderen Seite (…) Die Tätigkeit des Vermittlers als Individuum ist bizarr, unhaltbar und würdelos, wie sie solchermaßen zwischen Loyalität zu dem einen und zu dem anderen Ensemble hin- und herschwankt. (ebda. S. 90)

      Der Loyalitätskonflikt, der aus divergierenden, einander mitunter entgegengesetzten Nutzererwartungen resultiert, kann sich gerade im Kontext der Psychotherapie stark manifestieren, indem jeder der beiden GesprächspartnerInnen versucht, die DolmetscherIn an seine/ihre Seite zu ziehen: einerseits die Psychotherapeutin als die arbeitende Fachperson, die an die Berufsethik der DolmetscherIn appelliert, andererseits die KlientIn als eine GesprächsteilnehmerIn, die darauf angewiesen ist, sich mit Hilfe der DolmetscherIn in einer für sie prekären Situation Gehör zu verschaffen und Hilfe zu bekommen.

      Kadrić macht das Bühnen-Konzept von Goffman fruchtbar für die Translationswissenschaft (vgl. Kadrić et al. 2005: 12ff.). Die Bühne setzt sich zusammen aus einer Vorderbühne, die den repräsentativen Bereich darstellt, der von der Öffentlichkeit, also vom Publikum wahrgenommen wird, und einer Hinterbühne, von welcher das Publikum ausgeschlossen ist und wo die Ensemblemitglieder weitgehend ungestört Vorbereitungen für ihren Auftritt auf der Vorderbühne treffen können. Das Handeln der Ensemblemitglieder untereinander, gegenüber dem Publikum und gegenüber der Sache basiert auf Loyalität, Kooperation, Vertrauen und Solidarität.

      Die Institutionen dienen dazu, bestimmte Werte der Gesellschaft zu verwirklichen bzw. diese durch Vorgaben und Normen verbindlich zu machen. Die Bestrebungen des Berufsstandes, sein Image in der Öffentlichkeit möglichst positiv darzustellen, wurden bereits thematisiert.

      Die Institutionen erwarten, dass ihre Mitglieder bestimmte Rollen, bestimmte Handlungsmuster übernehmen. So werden die Mitglieder zu ‚Darstellerinnen‘, die die institutionserwünschten Handlungsmuster durch die Aneignung von spezifischen Techniken beherrschen, die ihnen bei ihrer ‚Inszenierung‘ helfen. Es geht dabei darum, den Eindruck zu erwecken und zu festigen, dass man als Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe alle Kriterien erfüllt, an denen man in der Arbeitswelt gemessen wird: Präzision, Kompetenz, Sachlichkeit, Zuverlässigkeit, Vertrauen. Als ‚Darstellerin‘ bemüht man sich, dieses bestimmte Bild in der Öffentlichkeit zu vermitteln: Man soll als Zugehörige der betreffenden Gruppe alle diese verschiedenen Kriterien erfüllen. (ebda. S. 16)

      Die akademische Ausbildung bildet die Hinterbühne für die TranslatorInnen. In diesem Raum werden außer der konkreten Kompetenzvermittlung auch ethische Werte wie Loyalität, Kooperation und Solidarität vermittelt und verhandelt, es findet also eine fachliche Enkulturation oder Rollenarbeit auf der Hinterbühne statt, sodass der Entwicklung einer Translationskultur Vorschub geleistet wird.

      4.2.1.1 Sonderposition der Psychotherapie: abseits der Bühne

      Das psychotherapeutische Setting ist nachgerade das Gegenteil einer Bühne. Die psychotherapeutische Arbeit findet unter Ausschluss des Publikums statt, im Rahmen der größtmöglichen Verschwiegenheit und Diskretion. Die absolute, garantierte Exklusivität sowie ein radikal individueller Zugang zu jeder KlientIn – also der bewusste Verzicht auf standardisierte Verfahren und Vergleichbarkeit – bilden den besonderen Wert dieser kommunikativen Situation. Die oben erwähnte Bühnenmetapher lässt sich bis zu einem gewissen Grad auf den Berufsstand der PsychotherapeutInnen anwenden, in erster Linie insofern, als die Ausbildungsstrukturen und die rege Vernetzung in Form von regelmäßigen Inter- und Supervisionen der fachlichen Enkulturation und der Weiterentwicklung des Fachs dienen; auf der „Vorderbühne“ agieren PsychotherapeutInnen, indem sie anlassbezogen ihre gewonnenen Einblicke an ein Fachpublikum oder eine interessierte Öffentlichkeit weitergeben. In der konkreten, täglichen Arbeit geht es jedoch darum, einen Raum zu schaffen, in dem traumatisierte Menschen die Möglichkeit erhalten, sich ganz und gar mit dem eigenen, individuellen Erleben auseinanderzusetzen, auf eine Weise, die für sie persönlich passend erscheint; aus der Sicht der KlientInnen handelt es sich um eine Art „Rückzugsraum“ und weniger um eine öffentliche Einrichtung, die mit dem Ziel, etwas Bestimmtes zu erledigen, aufgesucht wird. In Anlehnung an die Theatermetapher könnte man sagen, das psychotherapeutische Setting konstituiert eine wöchentlich wiederkehrende kommunikative Situation, in der die KlientIn die Möglichkeit hat, sich auf einer freiwilligen Basis zu öffnen, Stück für Stück ihre „Maske“ oder ihren „Panzer“ abzulegen (bzw. mit der Unterstützung der PsychotherapeutIn einen Blick hinter die eigene, im normalen Leben notwendig gewordene „Maske“, den eigenen „Panzer“, die eigene „Kulisse“ zu werfen), sich gegebenenfalls mit traumatisierenden Erlebnissen zu konfrontieren, diese Inhalte zu integrieren und jedenfalls einen Weg zu finden, die Gegenwart zu bewältigen und Perspektiven für die Zukunft zu entwickeln.

      Nur das Erstgespräch (also das Aufnahmegespräch) in einem Traumabehandlungszentrum folgt einem bestimmten Schema: Da werden routinemäßig die persönlichen Daten abgefragt, es wird festgehalten, durch welche Einrichtung die KlientIn zur Psychotherapie zugewiesen wurde, es wird geklärt, welche Symptomatik besteht und ob und welche Behandlung bereits in Anspruch genommen wurde. Nach Abwicklung des Erstgesprächs findet eine Zuweisung zu einer PsychotherapeutIn statt (meist nach einer Wartezeit, die einige Monate dauern kann), und ab diesem Zeitpunkt beginnt die eigentliche psychotherapeutische Arbeit – unter Ausschluss jeglicher Öffentlichkeit und mit dem einzigen Ziel, eine Annäherung an die persönliche Geschichte der KlientIn zu ermöglichen. Das heißt, ein Gespräch ist nicht dann zu Ende, wenn die notwendigen Informationen ausgetauscht wurden und das weitere Vorgehen geklärt ist, wie dies bei Beratungsgesprächen (z. B. Sozial- und Rechtsberatung) der Fall ist, sondern es ist so, dass eine KlientIn, die einen Psychotherapieplatz zuerkannt bekommen hat, jede Woche eine Stunde Gesprächszeit zur Verfügung gestellt bekommt, die sie auf ihre ganz individuelle Art und Weise nützen kann.

      Therapien können sich über Jahre erstrecken. Damit die Erreichung der explizit oder implizit definierten Therapieziele (siehe 3.3.1) gelingen kann, ist es notwendig, dass eine Beziehung zwischen der PsychotherapeutIn und der KlientIn entstehen kann. Am Aufbau dieser Beziehung ist die DolmetscherIn maßgeblich beteiligt – sei es durch aktive Teilnahme, sei es durch bewusste Zurückhaltung – und ist außerdem im Idealfall ein integrierter, kontinuierlicher Bestandteil dieser Beziehung.

      In der Landschaft des Community Interpreting (Behörden, medizinische und soziale Einrichtungen, Gerichte etc.) nimmt die psychotherapeutische Behandlung eine Sonderrolle ein, insofern als es nicht darum geht, ein bestimmtes „Ziel“ zu erreichen, im Sinne einer Bestätigung oder Erlangung einer konkreten Berechtigung, sondern das eigentliche