sechs Bauernhäusern und einem Dorf, das zu Pösen gehörte, war ein einziger Hof übriggeblieben, und der kleine Buchaer Teich vor dem Pfarrhaus war rot gewesen vom vergossenen Blut. Und dabei hatte kein Einwohner den Durchziehenden sich feindlich gezeigt.
An diese vergangene Not, an all die Hoffnungen, die sich an sein Dasein knüpften, dachte der Herr de Charreard nicht. Der blinzelte träge, schlafumfangen in die helle Mittagssonne hinaus. Seine Frau dagegen sah jedes Haus, jeden Baum und Zaun, jedes Kind auf der Gasse: alles was lief, rannte, flatterte und gackerte. Wie ein Kind freute sie sich an allem Gegenständlichen, verglich alles mit dem dunklen Heimatgäßchen und dem feierlichen steifen Zuhause ohne Mutterwärme. Als sie ein paar Blumen am Wegrand blühen sah, erfaßte sie eine unbändige Lust, diese zu pflücken. Sie beugte sich weit hinaus, dachte, sie möchte dem Kutscher ein Haltegebot zurufen, und dann erschrak sie doch, als plötzlich der Wagen mit einem Ruck anhielt.
Herr de Charreard erwachte jäh aus seinem Halbschlaf. War das Ziel erreicht?
Doch nirgends war ein Haus zu erblicken, und er entsann sich, daß bei einem Ritt, dem einzigen, den er, bei trübem Winterwetter dazu, in die neue Heimat unternommen, der Weg sich tief gesenkt hatte.
Der Kutscher war abgestiegen, er trat an den Wagenschlag und fragte mit einem gutmütigen Klang in der Stimme: »Wollen Gnaden enmal aussteigen?«
»Aussteigen! Mon Dieu, ist Er toll geworden?«
»Ich heeße nich Mongieh, ich heeße Jakob. Und mit dem Aussteigen ist's wegen dem Umfallen. Manchmal fällt er, weil's runner gieht! Un manchmal nicht, wie das so ist!«
»Der Wagen?« Monsieur Anthoine de Charreard krauste die Stirn, und der Kutscher sah ihn bedenklich an. Aber da steckte schon die liebliche Frau den Kopf auf ihrer Sitzseite hinaus und rief mit heller Freude: »Ach ja, gehen!«
Anthoine de Charreard stieg aus, er sah nun auch, daß der Weg steil war; er hatte Altersfurchen, und bergab laufende Wasser hatten tiefe Rinnsale gegraben. Rechts stieg der Berg an, links ging es steil hinab, Wacholderbüsche standen da und dünnstämmige Pappeln. Tiefer sah man in die Kronen alter Linden, zur Seite ein Stück zerfallene Mauer mit Brandspuren, ein grüner Schleier darüber, allerlei liebes, feines Unkraut breitete sich schon über eine zerstörte Wohnstätte.
»Wir müssen gehen, ma chère, der Weg ist nicht agréable.« Herr Anthoine de Charreard half seiner jungen Frau aus dem Wagen, dann reichte er ihr die Fingerspitzen. Sophia Christine legte schüchtern ihre Finger an seine und so standen sie beide, als wollten sie zum Tanz antreten.
Sie merkten es bald, der lehmige Weg voller Schrammen und Risse war kein Tanzboden, drei Schritte, und Herr de Charreard rief unwillig: »Impossible.« Er sah seine junge Frau kummervoll an und sah zu seinem grenzenlosen Erstaunen ein heiteres Glänzen in den schönen Augen. »Blumen, ach Blumen,« rief Sophia Christine kindlich froh. Sie löste ihre Hand rasch aus der des Mannes, raffte ganz flink ihr Kleid zusammen und pflückte ein paar Adonisröschen, eine blaue Glockenblume und wilde Kamillen, die sie zierlich zum Strauße fügte.
Und als hätte ihr das bunte Kraut Schwungkraft gegeben, mit so leichter Anmut schritt sie heiter den Berg abwärts, ihr Fuß fand sicher den Weg, aber auf halber Höhe blieb sie stehen. Sie sah in die grüne blühende Lindenherrlichkeit hinein. Sie atmete den Duft, der schwer und süß die Luft erfüllte, und sah die blühenden Linden umdrängt, umsummt von Hunderten von Bienen. Die feinen Stiele der Blätter erzitterten, so heftig war der Ansturm des fleißigen, kleinen Volkes.
Sophia Christine stieg auf einen Wegstein. Was sie da hörte und sah, war ihr eine fremde Musik, noch nie gesehenes Leben. Wie die kleinen Tiere hin- und herflogen, manche ganz beschwert von gelbem Blütenstaub, wie sie emsig sich in die Blumen einbohrten, das war Arbeit und Mühe. Sophia Christine wußte nicht viel vom Tun der Bienen, aber sie sah den rastlosen Fleiß, und unwillkürlich knüpfte sie ein Band von diesem tätigen Leben zu ihrem Leben hin. Und eine junge, frohe Arbeitsfreude ergriff sie. Sie tat einen Hupfer, landete ein wenig schwankend auf dem Weg und wandte ihr Gesicht jetzt ohne alle Scheu dem vornehmen Gemahl zu und rief: »So möchte ich werden!«
»Wie, Madame? Sie träumen wohl!« Herr Anthoine de Charreard sah zum erstenmal recht die holdselige Anmut seiner jungen Frau, darüber ging ihm seine feierliche Steifheit etwas verloren: er trat neben Sophia Christine, die hurtig wieder den Stein erstieg und ihrem Mann das summende, blühende Sommerwunder der Lindenkronen wies.
Sie standen beide, sahen, wie die Bienen auf und ab flogen, die Blüten sich bogen; dem Herrn de Charreard kam dabei der Gedanke, daß er früher immer an eine vornehme Frau gedacht hatte, die mit ihm zu Hofe gehen sollte. Kein Hausbienchen. Aber nun sah er den Wind in den Locken seiner jungen Frau spielen, er sah ihr frohes Kinderlächeln, und ganz sanft umfaßte er sie, hob sie von dem Stein herunter und sagte: »Wir wollen heimgehen, Madame!«
Und wieder legte Sophia Christine ihre Hand nur lose in die des Mannes und dann gingen sie sacht nebeneinander den Weg abwärts unter den tief schattenden Linden dahin. Bis sich der Weg ein wenig bog und die junge Frau einen hellen Freudenruf ausstieß.
Im Tal lag ein stattliches Anwesen. Freilich das Dach des Wohnhauses und die Ställe waren schadhaft; aber vor dem Haus blühte auch eine mächtige Linde, wilder Wein und Efeu rankten sich an den Mauern hoch, in einem kleinen Terrassengärtchen glühten Rosen; Sonne und Himmelsblau gaben dem Bild Farbe und Freude. Hinter dem Hause stieg ein mit Nußbäumen bepflanzter Berg empor, gegenüber krönte Nadel- und Laubwald die Höhen, und durch das Tälchen rann ein kleiner Bach so heiterschnell wie Kinder laufen.
Sophia Christine dachte an das düstere Haus in Jena, in dem sie an der Seite eines harten Vaters eine freudlose Jugend verlebt hatte. Und hier war Glanz auf Wiesen und Wegen, Glanz auf den Höhen, Glanz über dem Haus. Ein sommerfrohes Summen und Singen erfüllte die Luft, und Herr Anthoine de Charreard sah in den Augen seines Weibes den Widerschein alles Sommerglanzes und da strömte auch ihm aus dem stillen Tal Heimatfrieden entgegen. Jetzt hielt er die Hand seiner Frau nicht mehr, als schritte er mit ihr zum höfischen Tanz, er hielt sie fest umschlossen, und so gingen sie beide schweigend dem Hause zu.
Am Wegende gackerte eine Henne. Goldbraun, behäbig, zehn Küchlein umpiepsten sie. Und Sophia Christine vergaß, daß es für eine Madame de Charreard, Gattin des Kammerjunkers Monsieur Anthoine de Charreard, nicht schicklich war, auf dem Boden zu hocken wie ein Spielkind. Sie kniete nieder, breitete ihr Kleid weit aus und ließ mit einem kinderfrohen Locken Glucke und Küchlein in diesen Hafen laufen. »Und sie gehören uns,« rief die junge Frau mit einem innigen Sington in der Stimme.
»Ja, sie gehören uns, Sophia Christine.« Auch der Mann vergaß den höfischen Umgangston, sein Herz redete, da kam der Name weich und zärtlich heraus. »Doch nun komm, sie erwarten uns am Hause.«
Vor dessen Tür drängte sich ein Häuflein Menschen zusammen. Drei Mägde, die eine ältlich, ein Hofverwalter, und neben dem Knecht standen noch zwei Männer und drei Frauen. Die waren von der jenseitigen Höhe von dem Dorfe Zimmritz gekommen, es waren die letzten Anwohner des einst zu dem Gute gehörigen Dorfes, das die Schweden völlig zerstört hatten. Sie standen hager, gebeugt da, aber wie die junge, liebliche Frau so daherkam, ein Lächeln auf den Lippen, fanden auch sie ein karges Lächeln, war es doch, als wehe ihnen der Sommerwind eine lichte Wolke entgegen.
Und Sophia Christine, die bis daher das schweigsamste Jüngferlein auf der Welt gewesen war, fand warme, gute Worte, als sie in die von Gramlinien durchzogenen Gesichter blickte und die harte Hand des Hofverwalters ihre Rechte umschließen fühlte. In ihrem Herzen sprang ein Quell auf, und eine Anmut kam in Wort und Blick, die das verschüchterte Kind daheim nie besessen hatte. Auch Anthoine de Charreard fühlte Wärme, Freude in sich, auch er, dessen Hochmut einst manchen gekränkt, redete ohne Herablassung, mit heiter sicherer Würde zu den Leuten.
Steife, stelzbeinige, seltsam verschnörkelte Glückwünsche mußten die Beiden aushalten, feierliche Verzierungen waren den Sätzen beigefügt, aber es schwang immer ein guter Unterton mit und die Begrüßung gab beiden Parteien, den neuen Besitzern, den Dienstleuten und Anwohnern, das Gefühl, es wird mit uns zusammenstimmen.
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