jemand, dessen »auffälligste Eigenschaft ist / im Plural zu leben und zu denken«, wie Du nach dem Attentat auf Rudi Dutschke schriebst: »Beim Croquet sagt er zum Beispiel / Schnauze halten, wenn er am Schlag ist / und einer, um ihn durcheinanderzubringen / dazwischenredet. Er muss das sagen / weil er sich tatsächlich stören lässt / Er ist unglücklich, wenn er einen Namen / auch einen beiläufigen, vergessen hat / Da er großes Vertrauen zu den Menschen hat / hat er Selbstvertrauen, auch umgekehrt.« Damit, lieber Peter, hast Du nicht nur Rudi Dutschke, sondern auch Dich selbst charakterisiert. Mach weiter so, denn Literatur ist nicht nur eine Frage des Talents, sondern auch des Charakters! In alter Freundschaft – Dein H. C.
Wird’s bald besser?
Klaus Schlesinger zum Beispiel
Als ich Klaus Schlesinger Mitte der siebziger Jahre kennenlernte – das genaue Datum ist aus den Stasi-Akten ersichtlich, denn er wurde rund um die Uhr observiert –, lebte er in einem Hochhaus an der Leipziger Straße: aus westlicher Sicht eher bescheiden, für einen DDR-Bürger jedoch äußerst privilegiert. Unser konspirativer Kaffeekranz, bei dem Günter Grass, Nicolas Born, Reinhard Lettau, Günter Kunert, Hans Joachim Schädlich und Sarah Kirsch sich aus in Arbeit befindlichen Manuskripten vorlasen, fand in Schlesingers Wohnung statt; auf der Straße vor dem Haus parkte ein Kleinbus, dessen Insassen das Kommen und Gehen der Dichter observierten, ohne zu verstehen, was diese miteinander besprachen. In meiner Erinnerung war dies das letzte einer Serie informeller Treffen in Ostberlin, die die Stasi misstrauisch überwachte. Als nach der Wende die Akten geöffnet wurden, stellte sich heraus, dass sie bis zuletzt im Dunkel getappt hatte über Sinn und Zweck der privaten Zusammenkünfte, weil es ihr nicht gelungen war, einen Spitzel in den hochkarätigen Gesprächskreis einzuschleusen. Rückblickend von der fünfzehn Jahre später erfolgten Wiedervereinigung, will es mir scheinen, als hätten die Kontakte einem ersten, vorsichtigen Kennenlernen ost- und westdeutscher Literaten gedient.
Der Rest der Geschichte ist bekannt. Weniger bekannt sind die Umstände von Schlesingers Übersiedlung nach Westberlin, die keine Ausbürgerung war: Auf eigenen Wunsch durfte er seinen DDR-Pass behalten und – ein Privileg, das zu Gerüchten Anlass gab – auch nach Ostberlin zurückkehren. Kurz vor der Ausreise begegnete er in der Leipziger Straße Erich Honecker, der gerade seine im gleichen Haus wohnende Tochter besuchte. Als die Aufzugtür aufglitt, stand Schlesinger Auge in Auge mit dem Parteivorsitzenden, der nach kurzem Zögern, flankiert von zwei Leibwächtern, den Lift betrat. Beide kannten sich von früher, und Honecker war über Schlesingers Ausreiseantrag informiert. Er blickte verlegen an die Decke, und um das Schweigen zu brechen, stellte Klaus Schlesinger ihm eine Frage, die nur aus drei Worten bestand: »Wird’s bald besser?« Honeckers Antwort war genauso knapp und klingt in ihrer kaustischen Kürze wie eine Übersetzung aus dem Russischen: »Andere sind zufrieden.«
Nach der Ankunft in Westberlin beteiligte Schlesinger sich an sozialen Protesten in der Bundesrepublik. Zu Besuch im Wendland, wo er vorübergehend bei mir wohnte, fuhr er in das von Demonstranten errichtete Hüttendorf auf dem Bauplatz für ein geplantes Endlager bei Gorleben, um mit den Atomgegnern zu diskutieren. Im Garten meines Hauses machte er Schießübungen mit der Luftpistole auf eine am Scheunentor angebrachte Zielscheibe, was meinen Nachbarn verdächtig vorkam. Sie alarmierten die Polizei, die beim Anblick des Autos mit Ostberliner Kennzeichen glaubte, endlich den Beweis für die Fernsteuerung der Anti-Atom-Bewegung durch Stasi-Agenten gefunden zu haben. Später tauchte Klaus Schlesinger in die Westberliner Hausbesetzer-Szene ein, der er sich – trotz des Altersunterschieds – mit Haut und Haaren verschrieb, als wolle er nachholen, was die DDR ihm vorenthalten hatte: eine spontane Jugendrevolte, wie sie 1968 die Bundesrepublik erschütterte. 1980 zog er in ein mit Brettern verbarrikadiertes Abbruchhaus auf der Potsdamer Straße, das allen Räumungsversuchen widerstand; später wurde die Besetzung legalisiert und das Kellerlokal im K.O.B. – so hieß das besetzte Gebäude im Szenejargon – erhielt eine Lizenz zum Bierausschank. Schlesingers Erfahrungen schlugen sich literarisch nieder in seinem Buch Matulla & Busch, das schon in der Figurenkonstellation an den als Protest-Opa belächelten Schriftsteller erinnert. Ein Rentner aus dem Ruhrgebiet erbt ein Mietshaus in Westberlin und muss an Ort und Stelle feststellen, dass es von Besetzern okkupiert worden ist. Statt die Polizei zu rufen, solidarisiert er sich mit den Hausbesetzern, wobei der Rentner sich in eine Studentin verliebt: Eros und Anarchie, Sex und Politik gingen in der Literatur wie im Leben eine unauflösliche Verbindung ein. Das Buch wurde von der taz vorabgedruckt und später verfilmt; dass das vom ZDF bestellte Drehbuch zuerst abgelehnt und dann mit Verspätung realisiert wurde, bestärkte Schlesinger in der Überzeugung, zwischen Ost- und Westdeutschland gäbe es keinen prinzipiellen Unterschied: Auch in der DDR habe der Weg durch die Zensur Jahre gedauert.
Im Mai 1984 reiste ich zusammen mit Klaus Schlesinger nach Nicaragua. Die Flugkosten zahlten wir selbst, aber in Managua waren wir Gäste der sandinistischen Regierung, deren Kulturminister Ernesto Cardenal Schriftsteller aus aller Welt einlud, sich ein Bild zu machen vom Überlebenskampf der von den USA bedrängten Revolution. Das Flugzeug war belegt mit Handwerkern aus Baden-Württemberg, die von Kuba verlangten, ihr Übergepäck – Nägel, Werkzeug und Baumaterial – gratis zu befördern. Nach Mitternacht landeten wir in Havanna und schliefen im Transitraum, dessen Verlassen verboten war; selbst ein Gang zur Toilette war nur unter Bewachung erlaubt.
Bei der Ankunft in Managua fühlte Klaus Schlesinger sich an die DDR erinnert, die Nicaraguas Behörden Amtshilfe leistete: Die Prozedur der Pass- und Zollkontrolle ähnelte den Einreiseformalitäten am Bahnhof Friedrichstraße, nur die rauchenden Vulkane und die beim Erdbeben eingestürzten Häuser passten nicht dazu. Seine Wohngemeinschaft hatte Schlesinger beauftragt, sich über Methoden des Kaffeeanbaus zu informieren, obwohl oder weil ihm der Nicaragua-Kaffee, den er aus Solidarität trank, nicht schmeckte. Zu meiner Überraschung nahm er den mir läppisch erscheinenden Auftrag ernst, was zu einem Zerwürfnis zwischen uns führte: Schlesinger weigerte sich, mich nach Puerto Cabezas an der Atlantikküste zu begleiten, wo die Miskito-Indianer gegen die sandinistische Regierung rebellierten – mit Unterstützung der USA, wie man munkelte. Der mehrtätige Aufenthalt im Kampfgebiet war der Höhepunkt der Reise, aber Schlesinger zog es vor, eine Kaffeeplantage zu besichtigen. Erst später begriff ich, dass er Angst hatte: weniger vor Granatwerfern und Minen als vor dem Flug in einer altersschwachen Cessna über den von Contras infiltrierten Dschungel Nicaraguas.
Nach der Rückkehr trennten sich unsere Wege, ohne dass es zum Streit oder Bruch kam. Aber nach Jahren regelmäßigen Umgangs in und außerhalb der Tageszeitung, deren Literaturbeilage, die Literataz, wir gemeinsam herausgaben – hatten wir uns auseinandergelebt. Klaus Schlesingers DDR-Nostalgie ging mir auf die Nerven, hatte er doch längst mit den Füßen für den Westen optiert, und seine Identifikation mit Streetfightern, die dreißig Jahre jünger waren als er, fand ich lächerlich. Umgekehrt muss es ihm ähnlich ergangen sein, denn während er mich in seinem Wendetagebuch Fliegender Wechsel lobend erwähnt, meldete er in späteren Essays Widerspruch an gegen mein JA zur Wiedervereinigung. Dabei hatte ich nicht seine Stellungnahmen, sondern nur deren Begründung kritisiert, ohne zu bedenken, dass Klaus Schlesinger mehr aus dem Bauch argumentierte als aus dem Kopf – darin lag seine Stärke als Erzähler, der psychologisch glaubwürdige Figuren entwirft.
Doch weder politische Meinungsverschiedenheiten noch Stasi-Vorwürfe gegen ihn, die ich mir nie zu eigen machte, taten dem guten Einvernehmen Abbruch. Unser Umgangston blieb freundschaftlich bis zuletzt, als er mir, eine Woche vor seinem Tod, eine Widmung schrieb in sein letztes Buch: »Von Ost nach West« – dass sich dahinter eine Anspielung verbarg auf den Aufbruch in ein fremdes Land, das weiter entfernt und doch näher lag als Westberlin, ahnte weder er noch ich.
Zum Schluss möchte ich ein paar Beobachtungen festhalten, die Schlaglichter werfen auf Schlesingers widersprüchliche Persönlichkeit. Und es liegt in der Natur der Sache, dass sie neben Ernstem auch Komisches enthalten – der Verstorbene hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt:
Klaus Schlesinger war der einzige DDR-Autor, dem es gelang, eine Erzählung zu schreiben über den Mauerbau, die nichts beschönigt oder verschweigt, und diese unzensiert in der DDR zu veröffentlichen – ein Drahtseilakt wie die Flucht über ein durch die Luft gespanntes Seil von Ost- nach Westberlin. Die noch heute lesenswerte